Mutterschuldgefuehl
Kind stumpf vor dem Fernseher hockte und wir nur Chips äÃen. Würde ich da nicht gnadenlos schummeln?
Die Ãrztin legt meinen ausgefüllten Bogen offen neben sich auf einen Stapel Papiere, gleich neben unsere Dokumentation. In der Tat, sehr anonym.
Sie schaut auf.
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»So«, sagt sie. »Sie können Ihr Impfbuch nicht finden?«
»Ja«, sage ich. »Ich habe überall gesucht. Ich kann es mir nicht erklären.«
Sie schaut mich an. Ich sehe sofort: Sie glaubt mir nicht. Sie verdächtigt mich zu lügen.
»Sie wissen schon, wie wichtig Impfungen sind?«, fragt sie barsch.
»Ja«, sage ich sanft. Das hier fängt an, mir grimmigen Spaà zu machen. Wenn mich einer für ein böses Mädchen hält, obwohl ich gar nichts getan habe, werde ich sauer.
»Aber sie sind doch freiwillig, nicht wahr?«, flöte ich mit einem strahlend falschen Lächeln.
Sie antwortet nicht, sondern notiert etwas in ein Dokument, das vor ihr liegt.
»Ich kann es gerne nachreichen«, sage ich.
»Das ist nicht nötig.« Sie hebt den Kopf und schaut emotionslos.
Ich starre sie an. Wie? Das war alles? Ich gehorche nicht und werde nicht sanktioniert?
»Ihr Einladungsbrief klang so streng«, sage ich. »Ich dachte, ohne Impfbuch würden Sie uns gar nicht empfangen.«
Sie blickt mich schweigend an.
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Und in diesem Moment begreife ich es. Auf einmal ist es so klar wie Quellwasser: Ich bin und war immer frei. Sie können mir gar nichts. Ich habe gehorcht und ich hätte es gar nicht tun müssen. Ich habe gar keine Vorgesetzten, auch wenn alle immer so tun. Eine Ahnung rieselt mir heià den Rücken runter.
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»Wie ist das mit dem Bogen, den ich gerade ausgefüllt habe?«, frage ich mit belegter Stimme.
»Der war freiwillig«, sagt sie.
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Als ich zu Hause bin, rufe ich im Amt an und lasse mir die Fragebogen zuschicken. Man weià nie, wozu es vielleicht noch einmal gut ist.
Es geht los!
Und dann ist er endlich da: der Tag der Einschulung. Mit bunter Schultüte, Schultornister und Mäppchen (natürlich getestet durch Stiftung Wartentest), geputzten Schuhen, gekämmten Haaren, gebügelten Kleidern, feuchten Händen
und Augen. Ach, wir sind gerührt! Unser Kind, schon so groÃ! Nur gut, dass wir noch die Kleine haben.
Natürlich gab es zwischendurch noch Kennenlerntage in der Schule und den ersten Elternabend und auch einige private Elterninitiativen, die vor dem ersten Schultag verzweifelt versuchten, die Klassenlehrerin oder den Klassenlehrer ihrer Kinder herauszufinden, ja, vielleicht sogar ein bisschen Einfluss auf die Lehrerauswahl zu nehmen. Sie hatten sich erkundigt, sie hatten eine Meinung. Aber da bissen sie auf Granit. Da ist »unser« Schulleiter eisern. Das war bei der Einschulung unserer zweiten Tochter auch so. Solche Informationen gibt es an »unserer« Schule am ersten Schultag. Und so kommt es, dass - ich bin sehr verblüfft, dass offenbar andere noch viel aufgeregter sind, als ich es bin - Eltern mit Tränen in den Augen herumlaufen, nicht nur weil sie ergriffen sind von den Ereignissen der Stunden oder weil der Ernst des Lebens ruft, sondern weil sie fest überzeugt sind, die mieseste Klassenlehrerin an der Schule bekommen zu haben. Mies meint hier nicht unfreundlich und herzlos, sondern mies im Sinne von unfähig, nicht gymnasialtauglich. Schlicht schlecht. »Unser Kind lernt nicht genug!«, weint es um mich herum.
Auf Einschulungen der letzten Jahre kann man zunehmend auch Schultüten entdecken, auf denen Aufschriften wie »Abi 2022« programmatisch prangen. Ist es harmloser Witz, inniger Wunsch, ruhige Ãberzeugung oder verbissenes Ziel? Glück ist machbar, Pech allerdings auch. Es winkt der Erfolg des Kindes, es winkt sein Ruhm - und auf der anderen Seite lauert der Abgrund. Und er lauert so früh.
Denn in den meisten Bundesländern ist man in den letzten Jahren dazu übergegangen, nicht nur immer jüngere Kinder einzuschulen und demzufolge schon im ersten Halbjahr der 4. Klasse für Achtjährige eine Empfehlung für die weiterführende Schule zu verfassen, sondern man hat auch in vielen Schulen eine flexible Schuleingangsphase eingeführt, in anderen Bundesländern als JÃL, Flex oder jahrgangsübergreifender Unterricht bekannt. In Nordrhein-Westfalen werden zum Beispiel in den Klassen 1 und 2 und den Klassen 3 und 4
Kinder zusammen
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