Muttersohn
Buchten immer: traumhaft. Und immer: abseits von allem Tourismus. Der Tourist, der das mitteilt, ist ja keiner. Sobald Dr. Bruderhofer zurück ist, müssen immer alle den Film anschauen, in dem er die Turbulenz und die Traumhaftigkeit mit seiner Kamera eingefangen hat. Das Leitmotiv ist immer: das Segelboot. Gechartert wird in Finike. Das sind gewaltige Schiffe, heißen Kasapoglu oder gleich Kybele. Zweimaster, mit Besatzung. Aber Kapitän immer Dr. Bruderhofer. Man muss wissen: Dr. Heinfried Bruderhofer stammt aus Leutkirch. Sein Vater hat lebenslänglich als Heizer auf dem Schloss Waldburg-Zeil gearbeitet. Zweihundertundvierzehn Öfen, heißt es, hat er in der kalten Jahreszeit, die dort ja nie aufhört, zu befeuern gehabt. Todesursache Bronchialkrebs. Klar, dass Heinfried aufs Wasser musste. Schon als er in Ulm studierte, segelte er auf dem Bodensee und wurde in irgendeiner Miniklasse Europameister.
In seinem Praxisraum sind alle Wände mit Seglerfotos bedeckt. Er in verschiedenen Booten. Immer hart am Wind. Sprühende Gischt. Und er auch in der schrägsten Lage ganz entspannt. Groß, schlaksig, heiter. Die Postkarten des Ägäis-Seglers treffen, wenn Dr. Bruderhofer wieder zurück ist, immer noch ein und werden immer noch ans Schwarze Brett geheftet. Vorbeigesegelt an Patara, wo Nikolaus geboren wurde. Vorbei an Kale, früher Myra, wo Nikolaus Bischof war. Und in Patara ist Paulus umgestiegen, als er von Ephesus kam, auf der Reise zurück nach Judäa. Heilige Namen. Zwei Jahre hat Paulus in Ephesus seine wichtigsten Briefe verfasst. Und Johannes adressiert seine Offenbarung, die geschrieben wurde auf Patmos, das der Segler links liegenlässt, Johannes adressiert an sieben Gemeinden, die erste davon ist Ephesus, an den Engel der Gemeinde Ephesus, darin der Satz, der mich immer trifft: Ich werfe dir aber vor, dass du deine erste Liebe verlassen hast. Und Johannes ist dort begraben, und Maria soll dort ihre letzten Jahre verbracht haben. Dass sie überhaupt im Kreise der Artemis-Stadt Ephesus notiert wird, ist Botschaft. Die Kinder haben im alten Lykien immer nach der Mutter geheißen. Es gibt keine Gegend in der Welt, in der es die Frauen weiter gebracht haben als dort. Zuerst hieß die Anbetbarkeit Kybele, dann Artemis, dann Maria. Homer ist auch von dort und Heraklit. Aber immerhin, Dr. Bruderhofer segelt wenigstens vorbei. Ich hab es nie auch nur in die Nähe geschafft.
Eva Maria ist heiter. Ich bin sicher, dass sie die Gesellschaft an Bord jeden Abend zum Lachen bringt. Sie selber lacht kaum. Heiter, nicht weich, der Mund steht ein bisschen vor, sie könnte ein Knabe sein. Dieses Gesicht kann nicht älter werden, vor lauter schönster Gefasstheit.
Ich schau nicht hin, wenn das Leben an mir vorbeigeht. Ich will das Leben, das an mir vorbeigeht, nicht sehen. Ich schaue weg, wenn das Leben an mir vorbeigeht.
Man nagt an den Fehlern herum, die so viel kleiner waren als die Folgen. Die Welt ist scharf auf Bestrafung. Jeder muss, um seine Strafe zu ertragen, ein bisschen strenger strafen, als er gestraft worden ist. Ein Strafcrescendo seit Jahrtausenden. Da kommt schon was zusammen.
Es ist das Gegenteil von Hilfe, wenn selbst mein heiliggesprochener Namenspatron in seinen Bekenntnissen gesteht: Trotzdem heilte jene Wunde nicht, die mir die Trennung von meiner früheren Geliebten geschlagen hatte. Hoffnungslose Qual erfüllte mich.
Seit ich die Madonna in Sant’ Agostino gesehen habe, wie sie, das Kind auf dem Arm, hinunterschaut zu den zwei armseligen Pilgern, die zu ihr viel inniger hinaufschauen, als sie zu ihnen hinunterschaut, seit ich diesen kleinen hellen Fuß gesehen habe – nur ihr Gesicht ist genauso hell –, diesen schwebenden schwerelosen kleinen Fuß und dieses Teilnahme wie ein Almosen spendende Gesicht, seit dem hat die Sehnsucht ein Ziel. Die Caravaggio-Madonna hat es gegeben. Sie ist mein Jenseits. An sie zu glauben ist einfach. Durch sie wird die Welt schöner, als sie ist. Oder hört jemand mich schreien? Ich werde dich immer lieben. Bis bald. Siebzehn Jahre später: IN LIEBE , Eva Maria. Solange noch etwas möglich ist, glaubt man nicht. Unmöglichkeit kann man nur mit dem Glauben beantworten. Der Hochsprung. Von der Schwere geschleudert. Ans Firmament. Es küssend, erwachst du. Schäm dich nicht.
Meine Lage: Ich weiß nicht, wen ich hassen könnte. Ich muss hassen und finde keinen, den ich hassen könnte. Wenn ich nicht den Beruf hätte, den ich habe, würde ich sagen: Das
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