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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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des Spielers, der mit jedem Verlust glaubt, die Wahrscheinlichkeit, dass sein Einsatz jetzt endlich dran sei, nehme zu. Die Erlösungsvorstellungen aller Märchen, aller Religionen bebildern die Unerklärlichkeit. Sich kaputtphantasieren. Das ist das Ziel.
    Glauben lernt man nur, wenn einem nichts anderes übrigbleibt. Aber dann schon.
    Am Tag kann man sich noch täuschen mit Tätigkeit und Ruhe, aber abends und in der Nacht, Leere mit Goldrand bleibt Leere, ich seh’ der Zukunft ins schwarze Maul, in dem die roten Plastikrosen blühen. Egal ob es Gott gibt oder nicht, ich brauche ihn. Er ist die Schaufensterpuppe, die mir winkt, wenn ich vorbeigeh’.
    Nachts gebetet, dass mir am nächsten Tage jede Kreuzung erspart bleibe. Ich wusste, ich würde stehenbleiben. Sitzenbleiben. Oder einfach geradeausfahren. Egal wohin. Bloß keine Kreuzung mehr. Kein So-oder-So mehr.
    Ich war so weit weg von mir. Unter mir. Ich, mich anflehend, der Haltung nach. Zum Glück hörte ich mich nicht.
    Wehe, Wind, diese Nacht heftig, lass mich nicht allein.
    Diese Last, die dich jetzt regiert. Du wiegst mehr als die Welt.
    Jeden Morgen aufstehen wider besseres Wissen. Und mit zugenähtem Mund. Du möchtest dir einbilden, du seiest etwas Besseres, weil es dir angeblich schlechter geht als dem und jenem. Das ist die Versuchung. Das war sie.
    Die Träume. Du kennst keinen, dessen Träume du nicht kennst. Sie sind unsäglich.
     
    Ich ging immer an einer Wand entlang, die würde aufhören, dann begänne das Leben, die volle Berührung. Das war ein Irrtum. Diese Wand war das Leben.
     
    Er will hier Chef werden. Er ist hier schon Chef. Glaubt er. Aber er ist noch nicht ernannt. Noch nicht Professor. Er kann nicht warten, bis es so weit wäre. Neuerdings macht er mich herunter, wo er kann. Unverantwortlich, wie ich die Klinik leite. Gefährlich. Romantisch. Spinnig. Von vorgestern. So redet er. Und redet so, dass ich es erfahre. Er will, dass ich mich wehre. Dass es zum Streit komme. Öffentlich. Er will mich in der Zeitung lächerlich machen. Seine Neuroleptika gegen mein Johanniskraut. So stellt er sich das vor. Der Kampf findet jeden Tag statt, in jeder Sekunde. Letzte Woche, ein Siebenundvierzigjähriger wird eingeliefert, hat seine Frau mit dem Maurerfäustl acht- bis zehnmal auf den Kopf geschlagen, sie hat nach dem ersten Schlag noch reagiert, nach dem zehnten nicht mehr. Da stach er mit dem Küchenmesser in ihren Hals. Siebzehn Mal. Für jedes Ehejahr einmal. Dann hat er das Messer gesäubert und hat es in die Geschirrspülmaschine gesteckt. Er hat, sagt er, seine Frau, um ihr das Leben zu erleichtern, immer mit allen Haushaltsgeräten versorgt. Am Morgen danach zur Polizei. Berichtet, wie er seine Frau vorgefunden habe. Er sei es gewesen. Warum er das getan habe, sei ihm ganz unverständlich. In der Nachbarschaft war er beliebt. Der brave Bert hieß er da. Wir sollen jetzt feststellen, ob er schuldfähig sei. Dr. Bruderhofer fragte mich, als wir den Fall im Kollegium besprachen, ob ich für den braven Bert die Schlafsacktherapie vorschlage. Und verbessert sich: Schlafsack komme ja nur bei weiblichen Patienten in Frage. Es klingt komisch, wenn ich sage, er verfolge mich. Aber es ist so. Und seine Potenzen nehmen jeden Tag zu.
    Mein Ehrgeiz muss sein, so zu schreiben, dass Dr. Bruderhofer, wenn es ihm gelingen sollte, an das Manuskript zu kommen, ratlos wäre. Beim Titel Mein Jenseits würde er noch barmherzig grinsen. Dann die Überschrift auf Seite eins: Urim Tummim. Diese Wörter verlieren, wenn ich sie aus dem Hebräischen und Griechischen übersetze, die Kraft, die sie mir geben, solange ich sie unübersetzt lasse. Und ihre abweisende, verschließende Kraft verlieren sie auch. Sie sagen so viel wie Vollkommene Erleuchtung oder Göttliche Leitung. Ins Trivialtheologische übersetzt: Offenbarung. Aber auch das nur, wenn man Kierkegaard mitdenkt: Die Offenbarung ist das Geheimnis.
    Jedes Jahr segelt er mit Eva Maria an dieser türkischen Küste auf und ab, ohne dass er weiß, an was er vorbeisegelt. Von jedem Hafen Kartengrüße. Von ihm. Seine Verteiler hier: Frau Dr. Breit und Luzia Meyer-Horch. Die Karten landen am Schwarzen Brett, dass alle lesen, wie sich Herr Dr. Bruderhofer im Hafen von Fethiye befand, als er und seine Kumpane und Kumpaninnen den Wein aus Telmessos tranken zum frisch gefangenen Fisch aus der Fethiye Körfezi. Jeden Tag aus einem anderen Hafen, aus einer anderen Bucht. Die Häfen immer: turbulenter Orient, die

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