Muttersohn
Unglauben seien kein Gegensatz, sondern ein Vorgang, eine Bewegung, die nicht aufhören dürfe. Das unaufhörliche Hin und Her zwischen Glaubenwollen und Nichtglaubenkönnen verantwortet der, in dem es passiert. Der Wissende hat sein Wissen immer von einem anderen. Auf den kann er sich berufen. Der Glaubende, ob er glaubt oder nicht glaubt, er beruft sich auf sich selber. Ihm, schreibt Eusebius, tun die Wörter weh. Und schließt: Wir glauben mehr, als wir wissen.
Ach Eusebius. Adieu.
4.
Dr. Bruderhofer ist mit der Frau verheiratet, die meine Frau sein könnte. Er ist einundvierzig, sie ist neunundfünfzig. Ich dreiundsechzig. Egal, wie das gekommen ist, es ist so gekommen. Eva Maria ist eine Frau, die ruhig achtzehn Jahre älter sein darf. Das hat Dr. Bruderhofer erfasst. Vorher war sie mit dem Grafen Wigolfing verheiratet. Davor mit mir befreundet. Früher hätte man gesagt verlobt. Kennengelernt im Latein-Seminar in Konstanz. Sie studierte Alte Sprachen, ich verbesserte mein Latein, war schon Assistenzarzt in den Schmieder-Kliniken.
Es war im Sommer 70. Richard Sandro von Wigolfing war Patient, harmlos. Zyste im Innenohr. Wir wurden Freunde. Er lud mich ein auf sein Schloss, zwischen Schaffhausen und Stein am Rhein, auf der deutschen Seite. Meine Freundin Eva Maria habe ich mitbringen dürfen. Graf Richard war gerade frisch geschieden. Drei Wochen später heirateten sie, Eva Maria und der Graf.
Eva Maria stammt aus Ulm, ihre Familie hat da seit eh und je ein Schuhgeschäft. Sie war zweiundzwanzig. Im Seminar war sie unangefochten Nummer eins. Am Ende des Semesters gab sie ihre Antworten nur noch in Latein. Der Professor hätte sie, wenn seine Frau es zugelassen hätte, sofort geheiratet. Das sagte er freimütig im Seminar. Allerdings auch in Latein. Seine Frau sei das obstaculum obsoletum. Aber dann wurde sie Eva Maria von Wigolfing.
Eva Maria hat in Konstanz studiert, weil sie Wasser braucht. Sie ist eine Schwimmerin. Zuerst in der Donau, dann im Bodensee. Sie schwamm eigentlich Tag und Nacht. Studentenmeisterin. Deutsche Meisterin. Olympiadeteilnehmerin. 200-Meter-Freistil, die Bronzemedaille um vier Hundertstelsekunden verfehlt. Sie war die erste Frau, die den Bodensee von Bregenz bis Konstanz durchschwommen hat. 25 Stunden und 15 Minuten hat sie für die 64 Kilometer gebraucht. Im Seminar wurde sie gefeiert. Sie saß auf dem Podest, auf dem auch der Katheder steht. Unser Professor unterhielt sich mit ihr in Latein über die Stunden im See. Sie wusste viele Wörter nicht. Der Professor sagte, sie gehöre zum genus natantum. Natare necesse est, kalauerte er. Ich saß in der ersten Reihe, schräg unter Eva Maria. Es war die Zeit der kürzesten Röcke. Zuerst lag ihr linkes Bein über dem rechten, ihre Knie über einander. Durch die über einander geschlagenen Beine kam es zu einer Enge, zu einer Schenkel- und Knie-Enge. Und die Schenkel sichtbar bis unter den kurzen, auch noch gefransten Jeansrock. Bei mir hat sich das Wort Schenkelbuge eingefunden, wenn in mir diese Schenkel auftauchen. Die tauchen eigentlich nicht auf. Die verschwinden ja nicht. Ich kann mich verfolgt fühlen von diesen Schenkeln. Natürlich, oben, die Frau, nein, das Mädchen. Eva Maria ist eins fünfundsiebzig groß. Genau wie ich. Und eine Frau, die so groß ist wie du, ist natürlich größer als du. Ihr Gesicht, nicht bloß ein Mädchengesicht, der ein bisschen vorspringende Mund, zu den unternehmungslustigen Augen passend, insgesamt, in Aussehen und Bewegung, strahlt sie Entschlossenheit aus. Schon durch diese kurzgeschnittenen Haare. Rötlich. Wenn Gold und Rot sich mischen können – das sind ihre Haare. Es gab nach der Feier im Seminar ein Zusammensein, nannte man Hock, und ich durfte sie nach Litzelstetten hinausfahren. Sie wohnte so, dass sie jeder Zeit in den See konnte. In dieser Nacht taufte ich sie Artemis. Dann also Graf von Wigolfing: Bringen Sie mit, wen Sie wollen. Schloss Wigolfing. Wir saßen auf der Schlossterrasse. Vor uns der Schlossweiher, der sich bis in den umgebenden Wald hinein erstreckt. Unser Schicksalsweiher, sagte er. Sein Vater habe sich im Dezember 1945 an den Weiher gelegt, da, ein paar Meter neben dem Steg, der seinerseits ein Eisenbauwerk des 19. Jahrhunderts ist. Ein Eiffelturm als Steg, sagte der Graf so, dass man hörte: das formuliert er immer so. Im Dezember erlaube der Wasserstand keinen Selbstmordsprung vom Steg. Also legte sich der Vater ans Ufer, schob sich ins Wasser, bis es zum
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