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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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macht mich krank. Ich bin ein Versager. Wenn du keinen findest, den du hassen kannst, bist du ein Versager. Hassen ist gesund. Ich sehne mich danach, hassen zu können. Umsonst. Also komme ich mir vor wie eine Supermarktschmiere, die hundert Verwendungen hat und für keine taugt. Mir haben die Undurchschaubarkeiten ein Dasein geliefert, in dem ich verurteilt bin, meinen Feind, wenn nicht zu lieben, dann doch so zu erleben, dass Hass undenkbar ist. Dr. Bruderhofer ist nicht hassbar. Ich könnte ihn umbringen, aber nicht hassen.
     
    IN LIEBE .
    Ist das nicht deutsch? Ist das nicht ein Zuruf? Für immer? Ist das keine Reliquie? Bei meinem Vorfahr hätte ich lernen können, es ist nicht wichtig, dass Reliquien echt sind. Glauben ist eine Fähigkeit. Eine Begabung. Eine Kraft. Du spielst den Ball. Er kommt zurück, je nachdem wie du ihn gespielt hast. In der Sakristei steht im extra verschlossenen Fach die Strahlenmonstranz mit dem Abtwappen und den Rosenkranzmedaillons, ein goldenes Kreuz, da, wo sich die Balken schneiden, der Bergkristall, in den das heilige Blut eingelassen ist. Versiegelt vom Abt Benedikt Mangold. Wer das Blut im Kristall nicht sieht, stirbt innerhalb eines Jahres.
    Wir stellen uns immer etwas vor. Es gibt keine leere Sekunde. Auch die Leere ist eine Vorstellung. Ich weiß, dass es den Himmel nicht gibt. Aber es gibt das Wort. Genau so die Hölle. Wir haben sie geerbt. Himmel und Hölle. Innen sind wir ausgestattet mit Himmel und Hölle und mit allem dazwischen. Himmel und Hölle existieren, ohne dass wir daran glauben. Aber wir glauben ja daran. Ganz von selbst. Unwillkürlich. Wenn es den Himmel gäbe, könnten wir nicht daran glauben. Erst wenn uns auffällt, dass wir daran glauben, merken wir, dass wir nicht daran glauben. Dieses Nichtglauben unterscheidet sich kein bisschen vom Glauben. Das ist EINE Art von Gefühl oder Existenz. Immer unterschieden vom Wissen.
    Der Vorfahr: Wir glauben mehr, als wir wissen. Und die Wörter taten ihm dann weh. Ich möchte mich auch durch Sprachlosigkeit unangreifbar machen.
    Ich möchte gern gegen mich vorgehen, wenn ich mich bei solchem Wörterschleudern antreffe. Ich möchte einen Prozess anstrengen gegen mich. Obwohl ich weiß: Je ernster ich den Prozess gegen mich betreibe, desto unernster meine ich es. Das ist ein Gesetz. Jeder kann es bei sich, mit sich nachprüfen. Je ernster einer den Prozess gegen sich betreibt, desto eher wird daraus Ironie.
    Dass es die Himmelskönigin Maria höchstpersönlich war, die das weiße Ordensgewand dem Ordensstifter Norbert überreicht hat, wird vom Vorfahr nirgends bezweifelt. Das gehört bei ihm zum Kapitel: Glauben, eine Verschönerung der Welt.
    IN LIEBE . Was wäre mein Leben ohne diese zwei Wörter. Ich werde dich immer lieben, hat seit dem keine Kraft mehr. Das ist ein Satz wie aus einem Formular.
    IN LIEBE ist mein Jenseits. Glauben, was nicht ist. Dass es sei.
    Jedes Mal wenn eine Feindseligkeit wachsen will gegen die, die sich mühelos bewegen, erscheint IN LIEBE . Erscheint nicht optisch, nicht akustisch, sondern spürbar. IN LIEBE . Wenn du nicht wärst, könnte ich nicht die ganze Nacht ins Dunkel schauen. Du taufst meine Schlaflosigkeit. Meine Armut will keinen Namen als den deinen. Dieses Nichtbeimirbleibenkönnen nenn’ ich Sehnsucht. Ist kein Zustand, sondern eine Bewegung. Rasend langsam. Mein Jenseits ein Bedürfnis, ein Mangel, ein Fehl.
     
    Ich bin froh, dass ich etwas nachzuschlagen habe. Hoffentlich brauch’ ich lange, bis ich es finde.
     
    Von allen Menschen gleich weit weg, dann bist du am richtigen Ort. Dass jetzt niemand an mich denkt, hilft. Dabei müsste ich froh sein, wenn Dr. Bruderhofer in diesem Augenblick nicht an mich dächte. Er denkt aber an mich. Caravaggios David hat in der ausgestreckten Linken den Kopf Goliaths, den er ihm gerade abgeschlagen hat. An den Haaren lässt er den Kopf baumeln. David, das Schwert noch in der Hand, ist ganz jung, Goliath ist mehr als doppelt so alt. Und ist, heißt es, ein Selbstporträt des Malers. Gemalt zwei Jahre vor seinem Tod.
    Ich muss Dr. Bruderhofer eine Karte mit diesem Bild ins Fach legen. Er wird sich und mich in diesem Bild erkennen. Aber er wird nicht bemerken, dass ich der Maler bin.
     
    Wenn man sich nicht mehr eingestehen darf, wonach man sich sehnt.
    Aber dass der Glauben die Welt schöner macht als das Wissen, stimmt doch.
    Der Seele die Augen ausstechen. Den Ohren das Denken verbieten. Ich habe gelernt, so leise zu schreien, dass

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