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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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ich mich selbst nicht mehr höre. Dass es ernst ist, wissen wir, aber wir glauben es nicht.
    Die Welt entspricht dir nicht, aber du sollst ihr entsprechen.
    Gäbe es Gott, dann gäbe es kein Wort dafür.
    O Augustinus! Si comprehendis, non est deus.

5.
    Der Kantinenpächter und seine Frau. Herr Felgentreff und seine Frau, die von allen Helga genannt werden will. Ihr Mann aber will Herr Felgentreff genannt werden. Jeder hat ihn schon sagen hören, dass er stolz auf seinen Vornamen ist. Heinz. Aber diesen Vornamen will er nur in seinem Haus, draußen in Scherblingen, hören, nicht in der Kantine, nicht im Geschäft. Herr Felgentreff ist durch mich vor achtzehn Jahren Pächter geworden. Er war immer beleibt, hatte schon damals seine glänzende Haarlosigkeit und eine überaufrechte Haltung. Aber nicht nur, dass es immer aussieht, als habe er den Kopf gerade zurückgeworfen, er hat diesen zurückgeworfenen Kopf immer noch ein bisschen gedreht. Das würde hochmütig wirken, wenn sein Gesicht nicht andauernd diese mühelose, glaubhafte Freundlichkeit ausstrahlte. Und bedient nur mich. Alle anderen werden von Bedienungen bedient. Immer schon bedient er nur mich. Ohne Unterwürfigkeit. Er hat das am Anfang formuliert: Er war leidenschaftlich gern Kellner, jetzt ist er hier der Chef, aber dem anderen Chef gegenüber will er Kellner sein. Da war es nicht verwunderlich, dass er mir bei einem Silvesterball, beim Neujahrstrunk, zugeflüstert hat, von mir wolle er gern Heinz genannt werden. Nur von mir. Ich habe mich bedankt, habe selten von dieser Lizenz Gebrauch gemacht. Das war ein Fehler. Das hat ihn vielleicht gekränkt. Jetzt hat er sich gerächt. Auf dem letzten Silvesterball hat er sich Herrn Dr. Bruderhofer auch als Heinz angeboten. Dr. Bruderhofer hat daraus sofort eine Sensation gemacht. Hat an sein Glas geklopft, es war ja kurz vor Mitternacht, und hat laut bekannt gegeben, dass ihn wenige Ehrungen so gefreut hätten wie das Heinz-Angebot von Heinz Felgentreff. Und alle mussten ihre Gläser heben und auf diese Sensation trinken. Und dann die Krönung: Er bitte jetzt Helga Felgentreff um den nächsten Tanz. Frau Felgentreff ist zwar auch eher dick als schlank, aber ihr Temperament reißt ihr Gewicht andauernd zu den geglücktesten Bewegungen hin. Der Tanz mit Dr. Bruderhofer wurde ein großer Erfolg. Für beide. Sie wirbelten und zuckten und ruckten, es war eine reine Freude, ihnen zuzuschauen. Eine Beifallswoge. Dr. Bruderhofer hatte aus dem Tanz eine Huldigungschoreographie gemacht. Alles fand Helga zuliebe statt. Und sie wusste das weiblich zu genießen.
    Jetzt bedient Heinz Felgentreff also nicht nur mich. Der Instinkt des Kellners: Dr. Bruderhofer ist der nächste Chef.
    Den letzten Silvesterball hat Dr. Bruderhofer benützt, mir einen Schlag zu versetzen, der mir zeigen sollte, dass er hier gegen mich machen kann, was er will. Seine Schläge sind immer so konstruiert, dass ich mich nicht nur nicht wehren kann, sondern auch noch so tun muss, als merkte ich nichts von diesen Schlägen. Würde ich reagieren, könnte er alle jeweils Anwesenden zu Zeugen anrufen, zu Zeugen meiner Überempfindlichkeit. Vielleicht würde er sogar sein Vokabular bemühen und mich paranoid nennen.
    Beim letzten Silvesterball saß ich wie meistens an einem Tisch mit Luzia Meyer-Horch. Dazu Frau Dr. Breit und die beiden Luzia unterstellten Mädchen. Dazu Dr. Häuptle, ein Arzt, der seiner Pensionierung wie einer Erlösung entgegensieht. Für den Ball hatte er sich aufgemacht als Gevatter Tod. Und noch der Pfleger Alfons. Der Pfleger Alfons ist der ernsteste aller Pfleger. Ohne je mit ihm über ihn selbst gesprochen zu haben, spüre ich, dass er zu keiner Bösartigkeit fähig wäre. Er ist, ich kann es nicht anders sagen, ein guter Mensch. Er hat durch einen tobsüchtigen Patienten sein rechtes Auge verloren. Er habe sich nicht wehren wollen, sagte er nachher. Wir waren ein Tisch, der so tat, als genüge er sich selbst. Luzia Meyer-Horch sorgte dafür, dass es an unserem Tisch sozusagen hoch herging. Frau Dr. Breit, als Russin kostümiert, versuchte über jede witzige Bemerkung so laut zu lachen, wie sie es eigentlich nicht konnte. Am deutlichsten charakterisierte unseren Tisch, wie Alfons aufgemacht war. Er war ein Vampir mit Fledermausflügeln, aber auf seiner Brust stand groß: Ich bin ein schüchterner Vampir. Alfons tanzte mit Luzia, mit den zwei Mädchen, Dr. Häuptle tanzte auch mit Luzia, ich spendete jedem an den Tisch

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