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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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tot.
    Und am Sonntag spielte die an diesem Tag neunzig Werdende Mussorgski:
Bilder einer Ausstellung
. Sie sagt, sie spiele das Original, das ihr Sohn mit dem von Ravel bestimmten Orchester heute für sie dirigieren wollte. Und spielt.
    Percy hat das Gefühl, sie habe gleich vergessen, dass Leute da seien, die ihr zuhörten. Wenn Frau Müller-Sossima an irgendeiner Stelle aufgehört hätte, man hätte sich nicht gewundert. Und als sie dann aufhörte, blieb es still im Saal. Und sie stand auf und bedeutete mit einer Geste, dass diese Stille richtig sei. Und ging. Am Abend eröffnete sie die Akademie für Unvollendete. Sie sprach. Ihr Leben. Das Leben ihres Sohnes. Die Musik in ihrem Leben und im Leben ihres Sohnes. Und was sich für ihren Sohn daraus ergab: die Akademie für Unvollendete. Es ist ihr recht, dass Modest der Akademie ihren Namen geben wollte. Soll sie also so heißen.
    Dann sprach Augustin Feinlein. Er werde den Willen seines Freundes erfüllen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als das zu tun, was er besser getan hätte, als wir es können. Aber dass wir es weniger gut können, als er es gekonnt hätte, erlaubt uns nicht zu resignieren. Die Sofja-Akademie, die Akademie für Unvollendete, wird sein Vermächtnis sein. Das versprechen wir. Ihm. Modest hat mir gesagt, was er mit dieser Akademie vorhatte. Er hat sie mir anvertraut. Ich will sein Vertrauen ehren. Die Welt kommt nicht aus ohne das, was sie Vollendung nennt. Es ist ein schöner Zwang. Wir verdanken diesem Zwang viel. Immer und überall. Auch in der Musik. Aber störbarer ist nichts als das, was Musik werden will. Der Anflug, das Ununterworfene, das Ununterwerfbare, das Unvollendbare. Die Akademie für Unvollendete will den Zwang abschaffen, die Störung draußen halten, die Sphäre schützen, das, was werden will, sich selbst überlassen. Es ist ein Freiheitsexperiment. Modest Müller-Sossima hat an den Segen des Freiseins geglaubt. Weil er sich ihn erkämpfen musste.

8.
    Sobald Percy im Bett lag, fing er an zu weinen. Immer neue Ausbrüche. Keine Wörter, keine Sätze, nichts als Weinen. Ohne Inhalt, ohne Bedeutung. Das Einzige, was er vermochte: eine Art Lautlosigkeit. Es wurde schon hell, bis er einschlafen konnte.
    Als er aufwachte, dieser süße Geschmack im Mund. Blut. Sein Blut. Nie mehr, jetzt nie mehr einen Vater adoptieren. Der süße Geschmack im Mund ließ ihn nichts anderes denken. In einem Mundwinkel Blut, hatte die Neunzigjährige gesagt. Hatte ihm je jemand so gefehlt wie jetzt Modest Müller-Sossima? Modest Müller-Sossima. Dieser Liebe, Rundliche, diese Feinheit und Aufmerksamkeit, dieser alles Ermöglichende, dieser Freiheitsmensch, dieser …
    Percy musste aufstehen. Er musste etwas anderes finden, an das er denken konnte. Etwas oder jemanden. In seinem Inneren gab es nichts als Modest. Es gab kein bisschen Aussicht, an etwas anderes zu denken. Er hatte schon zu viel mitgekriegt von diesem An-alles-Denkenden. Er war vergiftet. Wie diese Augen loswerden? Diesen Blick? Sofort nachsterben. Ihm. Nicht mehr da sein. Wie geht das? Wo, bitte, ist der jetzt? Verlassener warst du noch nie. Du selbst nur noch eine einzige Verlassenheit. Bisher hat dir noch nie jemand gefehlt. Mutter Fini hat dich ausgestattet mit einem unverbrauchbaren Vertrauen zu dir selber, zu allem. Und jetzt bist du nichts, weil der dir fehlt. Weil der dir fehlt, fehlt dir alles. Dass der tot sein kann, wo er dir so lebendig ist. Immer noch …
    Weil es Tag war, konnte Percy nicht mehr weinen. Aber ihm war nach nichts als nach Weinen. Also weinte er. Wenn auch verhaltener als in der Nacht. Und musste denken: Hoffentlich kommt jetzt niemand. Und die Gemeinheit, dass er mit diesem Modest noch nicht hatte sprechen dürfen. Alles war Ankündigung, Versprechen, Hinreißung. Und jetzt? Unvollendet! Soll das ein Witz sein? Geht es so zu in der Welt? Zuerst diese jeden Tag noch heftigere Zukunftseröffnung, diese Verwandlung der Welt in eine Möglichkeit. Und dann das. Das. Das!
    So wie er jetzt war und fühlte, konnte er nicht unter die Leute. Warum war Modest von allen Männern, die er kennengelernt hatte, der vaterhafteste? Den adoptier’ ich! Das hatte er vorher nie so laut empfunden.
    Als er Mutter Fini geschrieben hatte, dass der Professor ihn adoptieren wolle, hatte sie mit einer Frage geantwortet: Ist er ein glücklicher Mensch. Percy hatte den Professor gefragt, ob er ein glücklicher Mensch sei. Der Professor hatte gespürt, um was es ging, hatte längere

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