Muttersohn
nie mehr.
10.
Percy stand auf dem Kistchen, auf dem der Professor immer als Stillsteher gestanden hatte. Massimo hatte ihm das Kistchen platziert und sich dann ins Auto zurückgezogen. Percy sah über die Leute, die vorbeigingen, weg. Er sah über den Rhein hinüber. Als einer der Vorübergehenden stehengeblieben war, blieb bald auch ein zweiter stehen, ein dritter, es wurde eine kleine Versammlung. Percy sagte nichts. Er senkte den Blick. Sah die Leute an, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Aber sie konnten sich schon angeschaut fühlen von ihm, sonst hätten sie nicht so hinaufgeschaut zu ihm. Er sah immer wieder über die Leute weg, über den Rhein hinüber, er nahm das Schloss wahr auf der anderen Rheinseite, aber er sah nicht extra hinauf zu diesem Schloss, er sah wieder zu den Leuten hin, die bei ihm stehengeblieben waren. Er konnte nichts sagen. Er musste geschehen lassen, was von selbst geschah. Er glaubte, die Leute verstünden ihn, seien damit einverstanden, dass er da stehe und schaue und nichts sage. Auf jeden Fall, das spürte er, war sein wortloses Dastehen eine Vorbereitung für das, was er sagen würde. Wenn er etwas sagen würde. Er stand hier, weil der Professor hier gestanden war. Er war nicht angemalt oder besonders angezogen. Vielleicht hatten diese Leute den silbernen Stillsteher erlebt, hatten mitgekriegt, was ihm passiert war. Sicher hatte sich das im Ort herumgesprochen. Percy spürte, dass alle, die da vor ihm standen, an den Professor dachten. Mehr konnte er nicht wollen. An etwas anderes konnte er auch nicht denken. Hier fand ein Requiem statt für Augustin Feinlein. Durch Schweigen. Tatsächlich ging dann einer weg, eine Frau war es. Aber sie ging nicht kopfschüttelnd weg, sondern einfach so. Immer wieder gingen dann welche weg, aber es kamen auch neue dazu. Die Leute, die stehen blieben, ihn anschauten, gaben ihm eine Bedeutung, die er nicht hatte. Dass irgendwann mehr gingen als noch kamen, war verständlich. Irgendwann standen nur noch fünf oder sechs Menschen vor ihm und schauten zu ihm hinauf. Die würden nicht gehen, das spürte er. Dann kam diese Frau in der engen weißen, mit schwarzen Rändern passepoilierten Jacke. Er konnte passepoiliert nicht denken, ohne an Mutter Fini zu denken. Seine Mutter Fini war in Tettnang als Lehrling aufgefallen, weil sie unvergleichlich gut passepoilieren konnte. Im Jackenausschnitt dieser Frau bauschte sich ein Schal mit eher kleinen als großen hellen Punkten. Und die Punkte waren eben so wenig weiß, wie der Schal schwarz war. Ihm war, als habe er die Frau ein bisschen durchschaut. Ihr Prinzip: keine Kontraste. Die passepoilierten Ränder waren zwar schwarz, aber wiederum so dünn, dass sie der weißen Jacke nur eine Fassung lieferten, keinen Kontrast. Die Frau stellte sich zu den anderen. Sie sah Percy natürlich anders an als die anderen. Glaubte er. Bildete er sich ein. Das war die Frau aus dem Schloss Wigolfing. Er hatte das offene Cabrio gesehen, das auf dem schrägen Weg langsam heruntergefahren und dann hinter den Häusern auf dem anderen Ufer verschwunden war. Dann war sie über die Brücke gekommen und hatte sich zu den Leuten gestellt.
Da wusste Percy, dass er jetzt nichts mehr sagen konnte. Das würde wirken, wie wenn er auf diese Frau gewartet hätte. Hatte er nicht? Hatte er doch. Sie war die Schlossherrin. Aber in dem Film im Spankörble in Scherblingen hatte sie rötliche Haare gehabt. Percy konnte eine Zeit lang seinen Blick nicht mehr wegbringen von ihr. Sie hatte jetzt dunkle Haare. Einen Farbton kurz vor Schwarz. Aber wirklich nicht schwarz. Sie stand keine drei Meter von ihm weg und sah herauf, also kam das Tageslicht in ihre Augen und machte sie hell. Percy wurde durchströmt von einem Gefühl, von einem Mitgefühl für den Professor. Diese Frau hat sich für Augustin Feinlein nicht interessiert. Eine Liebe wie die Liebe Augustin Feinleins war diesem Gesicht fremd. Artemis. August Feinlein hat das gewusst. Du kommst nicht in Frage. Ob diese Frau noch wahrgenommen hat, wer der Silberne war, der da immer samstags mit dem eigenen abgeschlagenen Kopf gestanden war? Sie hätte ihn von ihrem Schloss aus mit einem Fernglas sehen können. Sie hätte … Vielleicht hat sie’s ja vorgehabt, ihn zu erkennen, dann war etwas dazwischengekommen. Ein Todesstoß.
Percy spürte, dass er nicht nach Worten suchen musste. Er musste weder etwas sagen noch nichts sagen. Er musste dieser Frau in die Augen schauen. Und er fühlte, warum
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