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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Diese Handlung ist nichts als sie selbst. Sie verstehen zu wollen heißt, sie herabzuziehen in unsere Sinnbedürftigkeit. Und das heißt, sie zu fälschen.
     
    Anton P. Schlugen.
     
    Als er das so geschrieben hatte, fiel ihm ein, dass das Gutachten nicht von ihm, sondern vom Professor unterschrieben werden musste. Er strich seinen Namen durch und schrieb drunter: Prof. Dr. Dr. Augustin Feinlein. Dann ging er durch den langen Gang. Die Gänge in Scherblingen waren ihm auch lang und hochfein vorgekommen. Verglichen mit den Rheinauer Gängen waren es brave Flure. Die benediktinische Dimension. Und jeder hatte hier eine Zelle zum Schlafen und eine zum Arbeiten. Oder zum Beten. Die Treppe hinab ins Parterre war nichts als gewaltig. Drunten hatte der Professor ein Sekretariat eingerichtet. Da herrschte Kirki. Er klopfte. Keine Antwort. Er klopfte stärker. Schließlich drückte er die Klinke so leise wie möglich hinunter. Die Tür gab nach. Kirki saß an ihrem Schreibtisch, zurückgelehnt, die Augen geschlossen. Ihre Arme hingen herab. Sie war ohnmächtig. Er ging vorsichtig hin zu ihr. Sie atmete. Er sagte so leise wie möglich: Kirki. Keine Reaktion. Er sagte noch einmal: Kirki. Ihre Hände fuhren ihr vors Gesicht. Sie schrie. Es war nicht verständlich, was sie schrie. Kirki hatte ohnehin eine hohe, eher dünne Stimme. Ihr Schrei war so grell, weil ihre Stimme so hoch und so dünn war. Ihr Schrei war wie ein Stich. Der nicht aufhörte.
    Der hohe große Raum machte ihren Schrei noch größer. Und mit einem Mal fiel ihr Kopf nach vorn auf die Tischplatte, ihre Hände fielen neben ihren Kopf. Sie schrie nicht mehr. Ihre Hände kratzten auf der Tischplatte. Jetzt wimmerte sie. Ihr Wimmern war nichts als ein unaufhörlicher hoher Ton. Ein gleichbleibender allerhöchster Ton. Ein Schrei nach innen. Er musste Massimo holen. Aber der konnte überall sein. Überall, wo er gebraucht wurde. Der Hausmeister konnte wissen, wo er Massimo gerade beschäftigte. Nein, es war Samstag. Der Tag des Professors auf der Brücke, um diese Zeit holte Massimo ihn ab.
    Kirki in diesem Zustand allein zu lassen, war nicht möglich. Er dachte an den Satz des Professors: Kirki in Scherblingen zu lassen, das hieße, die Seele dort zu lassen. Weil er nicht wusste, wie er ihr helfen konnte, blieb er einfach stehen. Die Blätter mit seinem Gutachten legte er auf den Tisch. Vielleicht konnte er Kirki berühren. Sie kratzte immer noch mit ihren Händen auf der Tischplatte. Ihr Körper zitterte. Er sagte jetzt einfach: Kirki. Das wirkte. Sie sah auf, sprang auf, fiel an ihn hin, er fing sie auf und führte sie zum Ledersofa. Sie ließ es geschehen. Dann setzte er sich so, dass er ihre Hände in seine Hände nehmen konnte. So saßen sie, bis die Tür aufgerissen wurde und Massimo hereinkam. Er setzte sich sofort neben Kirki, riss sie an sich und streichelte sie und redete griechisch und italienisch auf sie ein. Percy schien er nicht bemerkt zu haben. Massimo weinte. Er schrie nicht, er weinte.
    Dann konnte er sprechen. Konnte er sagen, was er Kirki schon am Telefon gesagt hatte. Der Professor ist tot. Ja. Tot. Stand da wie immer auf seinem Kistchen. Samstag. Kommen sieben oder neun junge Kerle. Haben ein Fußballspiel verloren, haben getrunken, johlen über die Brücke, der ist doch nicht echt, ruft einer und stößt den Professor um. Der fällt, schlägt mit dem Hinterkopf auf den steinernen Grund, ist tot. Massimo sieht’s vom Auto aus. Er wartet ja immer, bis der Professor selber sein Stehen beendet, den am Draht baumelnden Kopf und die Schale mit dem geschenkten Geld in den Geigenkasten legt und herüberkommt zu Massimo. Immer wenn gerade keine Leute auf der Brücke sind. Massimo sieht, was passiert, ist sofort dort, die Kerle johlen schon weiter, sofort sind Leute da, sie haben alles gesehen, mitgekriegt, die Kerle haben gewettet, ist der echt, oder aus was ist der. Massimo kniet, hat den Kopf des Professors in seinem Schoß. Ein Riesenradau ringsum. Die Polizei, der Arzt, der Unternehmer mit dem Sarg, Massimo muss noch die Adresse sagen: Insel Rheinau. Dann erst kann er Kirki anrufen.
    Percy ließ Kirki und Massimo auf dem Sofa zurück, ging über die gewaltige Treppe hinauf, ging den gewaltigen Gang entlang bis zu seinem Zimmer, zu dem Zimmer, in dem er arbeitete. Als er saß, hatte er das Gefühl, die Zelle umgebe ihn mit ihrer ganzen Vergangenheit. Sie war ein Mantel gegen alles, was geschah. Was geschehen konnte. Er weinte nicht. Nicht mehr,

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