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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Zeit nichts gesagt, dann den Kopf geschüttelt. Ein paar Tage später: Das Wort glücklich komme bei ihm nicht vor, weder mit Ja noch mit Nein. Percy hatte Mutter Fini geschrieben, der Professor sei weder das eine noch das andere. Mutter Fini hatte geantwortet: Als Vater kommt in Frage nur ein glücklicher Mensch. Also Modest Müller-Sossima …
    Es klopfte an der Tür. Da das noch nie vorgekommen war, sagte er nichts. Aber es klopfte noch einmal, und eine Stimme sagte etwas, was man durch diese dicken Klosterzellentüren nicht verstand. Er machte auf. Massimo. Der entschuldigte sich. Er hat einen Schrieb auf seinem Tisch gefunden, den versteht er nicht. Percy liest: Wiederkehrende Prüfung aller oberirdischen Heizölverbrauchertankanlagen mit einem Nenninhalt von 20 000 Litern oder weniger.
    Massimo: Er kenne drüben auf dem Festland bis jetzt nur die Holzschnitzelfeuerung. Es müsse aber auch eine Ölfeuerung geben. Und die, sagte Percy, hat garantiert nur Tanks mit mehr als 20 000 Litern und ist unterirdisch, also betrifft dich das nicht.
    Massimo sagte, Enrico sei im Urlaub, sonst hätte er den gefragt. Dann noch, dass es ihm nicht leichtgefallen sei, einfach bei Percy zu klopfen.
    Massimo, rief Percy, Massimo!
    Und umarmte ihn heftig. Er lasse ihn erst los, wenn Massimo verspreche, so etwas nie wieder zu sagen!
    Nur noch denken, sagte Massimo.
    Massimo, sagte Percy, du bist doch der, der hier alles zusammenhält.
    Als Percy wieder allein war, spürte er, dass die Schärfe, in der ihm erschien, was er jetzt verloren hat, zunahm. Er hatte nicht verhindert, dass Ewald sich tötete. Das tat weh. Aber es war eine Wut. Ein Schrei. Du hättest bei ihm bleiben müssen, bis … Immer. Du wärst dafür da gewesen, dass er sich nicht tötet. Ewald hätte verstehen müssen, dass er dir das nicht zufügen kann. Du hast nicht die mindeste Bedeutung gehabt für ihn. Das ist das, was dir jetzt wehtut. Du tust dir leid. Wenn du an Ewald denkst, möchtest du schreien. Wenn du an Müller-Sossima denkst, musst du weinen. Nichts als weinen. Weil er dir fehlt, wie dir noch nie jemand gefehlt hat. Die Leere, die du jetzt spürst, lass sie dir gefallen. Wehr dich nicht. Wehr dich. Lass sie dir nicht gefallen. Schreib Müller-Sossima-Sätze auf.
    Er schrieb auf: Schwache Nieren, das verbindet mich mit Mozart. Und zum Professor: Wir haben uns auf einander zugeschrieben. Und: Sein Freund, der Pfarrer Ackeret, hat ihn angerufen: Es ist niemand gestorben, du kannst morgen kommen. Und: Wenn ich einem Mitarbeiter gegenüber kein zustimmendes Wort finde, schweige ich lieber. Und: Dem Professor hat er erzählt, ihm seien unzählige Dr. h.c.s angeboten worden. Er habe höflich abgelehnt. Er müsse seinen Namen schützen vor solchen Accessoires.
    Percy würde ein Verzeichnis mit Müller-Sossima-Sätzen anlegen. Nur um etwas zu tun, was mit dem Gestorbenen zu tun hatte. Er würde die anderen nach solchen Sätzen fragen.
    Und schrieb gleich noch einen solchen Satz hin: Nützlich sein tut gut. Nützlich scheinen strengt an. Und: Jeder Mensch hat nur eine Mutter. Also ist die Mutter schon von Natur aus einzigartig. Und: Was wir in jeder anderen Hinsicht vermeiden, im Geistig-Seelischen leben wir fast ausschließlich von Konserven. Diesen letzten Satz schrieb er dreimal auf. Und sagte laut ins Zimmer, als wäre da noch jemand, zu dem er spräche: Das ist mein Programm.

9.
    An die Staatsanwaltschaft Ravensburg.
    Zur Selbsttötung von Ewald Kainz.
     
    Niemand kann sich hineinversetzen in jemanden, der sich töten wird oder sich getötet hat.
    Ewald Kainz hat viermal versucht, sich zu töten. Beim vierten Mal ist es gelungen. Das kann so gesagt werden, dass er unter verschiedensten Umständen nicht imstande war, diese Umstände erträglich zu finden. Auch wenn er diese Umstände selber geschaffen hatte. Sein Anspruch war unerfüllbar. Auch der an sich selbst. Sich selber zu töten, ist die größtmögliche Distanz zu allem. Diese Tat fordert dazu auf, auf Verständnis zu verzichten, oder jeden Verständnisversuch als das zu sehen, was er ist: ein Versuch, sich selber zu beruhigen. Es ist schwer erträglich, dass ein Mensch, den man zu kennen glaubte, sich so absolut entfernen konnte. Es gibt Handlungen, die überhaupt nicht verantwortet werden müssen. Dazu gehört die Selbsttötung. Niemand ist da schuld. Auch der nicht, der sich getötet hat. Das darf sein: eine Handlung, die geschehen ist, ohne dass es dafür einen Schuldigen geben kann.

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