Muttersohn
Augustin Feinlein nichts dagegen machen konnte, für diese Frau nicht in Frage zu kommen. Percy fühlte sich hingezogen zu dieser Frau, wie er sich noch zu keinem Menschen hingezogen gefühlt hatte. Er würde sie anschauen müssen, solange sie sich anschauen ließ. Er erlebte das Nichtinfragekommen. Diese Frau war zweimal so alt wie er. Er fühlte sich ausgeliefert. Er kriegte mit, dass die Leute, die noch da waren, jetzt ihn und seinen Blickwechsel mit dieser Frau beobachteten. Wahrscheinlich kannten sie sie, weil sie ja herüberkam und im Ort einkaufte. Percy wusste, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Er ergab sich dieser Ohnmacht. Dann drehte sie sich um und ging. Percy blieb stehen. Ihr nachzurennen, das brachte er nicht fertig. Er blieb stehen, sah ihr nach, bis sie jenseits des Flusses zwischen den Häusern verschwand. Dann tauchte dieses Cabrio wieder auf. Langsam fuhr sie den schrägen Weg hinauf. Droben verschwand das Auto zwischen den mächtigen Pfeilern eines Tors. Das Schlosstor wahrscheinlich.
Kaum war die Frau gegangen, gingen die Leute auch, die letzten. Sie hatten den Blickwechsel beobachtet, sie hatten erwartet, dass irgendetwas geschehe. Sobald die Frau weg war, war klar, dass nichts mehr passieren konnte.
Percy nahm das Kistchen, trug es zum Auto, Massimo hatte schon den Kofferraum geöffnet, Percy verstaute das Kistchen so, als sei es etwas, das jetzt immer wieder gebraucht werde. Als er neben Massimo saß, sagte er: Andiamo. Massimo zeigte, was es ihn kostete, durch diese engen Gässchen hinauszufinden. Und als er endlich auf der Landstraße draußen war, sagte er, er wisse genau, warum der Professor ihn so ganz und gar aufgenommen habe. Er wisse noch den Augenblick, in dem es passiert sei. Der Professor kommt durchs Gartentor, kommt heim, und er, Massimo, ist beim Laubrechen. Das hat er von sich aus angefangen, da Kirki mit dieser Masse Laub nicht fertig werden konnte. Der Professor bleibt stehen, schaut zu, Massimo spürt, dass der Professor sucht, was er sagen könnte zu dieser Laubrecherei, da hilft ihm Massimo, er sagt: Deesch an Dauerauftrag, Herr Professor. Das war’s. Diesen Satz hat der Professor dann immer für alle möglichen Aufträge gebraucht. I’ hett wieder an Dauerauftrag, Massimo, hat er dann gesagt. Er hat mit mir bloß Mundart gesprochen. Die hab’ ich von Gertrude perfekt gelernt. Gertrude ist ja gebürtig aus Untersiggingen, gell. Ich habe gemerkt, wenn ich in Mundart geschimpft oder geflucht habe, wenn ich Heidenei oder Hergoless gesagt habe, hat der Professor sich gefreut. Dann hat er gesagt: Etza kumm. Oder: Etz kumm no. Er hat ja außer mir keinen gehabt, mit dem er so hat sprechen können.
Percy feierte einen anderen Augenblick. Wenn die Frau in der eng anliegenden, schwarz passepoilierten Jacke den Blickwechsel so erlebt hätte wie er, wäre sie stehen geblieben. Stehen geblieben, bis alle Leute weggegangen gewesen wären. Aber die wären, wenn die Frau geblieben wäre, nicht gegangen. War das eine Entschuldigung dafür, dass sie gegangen war? Keinesfalls. Das hätte probiert werden müssen. Sie hätte stehen bleiben müssen, bis alle Beobachtenden keine Lust mehr gehabt hätten, diesem anscheinend ereignislosen Blickwechsel noch zuzuschauen. Dann nämlich, wenn alle gegangen gewesen wären, wären diese Frau und Percy einander allein gegenübergestanden. Für immer. Oder wenigstens: Wie für immer. Aber nein, sie drehte sich um und ging. Ihr war es peinlich. Und mit jedem, der ging, wurde ihr der Blickwechsel peinlicher. Sie konnte sich das nicht leisten, hier, wo jeder sie kannte, in einem Blickwechsel mit einem dreißig Jahre Jüngeren beobachtet zu werden. Also drehte sie sich um und ging. Hallelujah! Was denn sonst! Bürgerlich! Zum ersten Mal in seinem Leben brauchte er dieses Wort. Er wollte es nicht gegen diese Frau verwenden. Er wollte nur verstehen, was geschehen bzw. nicht geschehen war. Es ist ihr peinlich, wenn Leute etwas von ihrem Gefühlsleben mitkriegen. Oder war es ihr schon peinlich, überhaupt so angeschaut zu werden? Aber sie hat doch auch geschaut. Sie hat den Blickwechsel geschehen lassen. Sie hätte doch überhaupt nicht kommen müssen …
Massimo, fahr schneller!
Massimo fuhr schneller. Percy wünschte sich einen Unfall.
In Liebe u.s.w.
Hoffen macht unbelehrbar. Ewald.
Percy fühlte sich zu einer sein Selbst zerschneidenden Inkonsequenz ermächtigt. Hoffen macht unbelehrbar.
Das musste, wenn es erfahren worden war,
Weitere Kostenlose Bücher