Muttersohn
Lebensaugenblicks nur zu gern eine Chance erkennt für die Akademie, die ihren Namen trägt.
Nach der Unterschrift noch ein PS : Alles Materielle hat Herr Modest Müller-Sossima so geregelt, dass die Akademie für zehn Jahre ihr Auskommen hat.
Komme gern nach Amtzell.
Dann Elsas Brief.
Sehr geehrter Herr Schlugen,
die Geschichte Ihrer Akademie für Unvollendete könnte mir gleichgültig sein. Sie scheinen zu glauben, ich müsse jetzt einspringen, damit das gutgemeinte Unternehmen nicht noch an diesem unvorhersehbaren zweifachen Unglück scheitere. Zwei Menschen sind gestorben, unabhängig von einander. Aber die Todesfälle wirken jetzt zusammen, könnten das Projekt scheitern lassen. Das wäre nicht im Sinn der Gestorbenen. Man muss jetzt das Projekt retten vor dem Zusammenwirken der beiden Todesfälle. So verstehe ich Ihr Motiv. Es wäre sozusagen ein Sieg der Sinnlosigkeit, wenn die beiden Todesfälle zusammen das Projekt zum Scheitern brächten. Und damit so etwas Sinnloses nicht passiert, soll ich kommen. Das wiederhole ich so deutlich, weil ich eben dazu, das Sinnlose nicht den Ausschlag geben zu lassen, nicht tauge. Nicht taugen will. Ich will nicht so tun, als sei mir nichts lieber als die Beförderung der Sinnlosigkeit, aber ich sage deutlich: Auf eine Sinnlosigkeit mehr oder weniger kommt es mir nicht an. Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass Sinnloses geschieht. Dass Sinnloses den Ausschlag gibt. Wie und wo auch immer. Ich muss das so deutlich sagen, damit mir für das, was ich jetzt sagen will, nicht Motive unterstellt werden, die nicht meine Motive sind.
Mir könnte es also egal sein, wenn die Akademie für Unvollendete unvollendet bliebe. Aber es gibt Motive in meinem Leben, die mich anders bestimmen. Ich habe, seit ich das Musikstudium in Tübingen hinter mir habe – und es war vor allem das Studium der Kirchenmusik –, ich habe seit dem ununterbrochen mit Menschen zu tun, die Musik machen wollen, obwohl das nicht ihr Beruf ist. Alle diese Menschen – ob Orchestermusiker oder Sänger – brauchen die Musik. Und das aus tausend Motiven. Viele von ihnen würden am liebsten nur Musik machen. Aber es ist eben nicht dazu gekommen. Sie haben Berufe, durch die die Musik eine Nebensache werden musste. Ich habe tausend Variationen des Umgangs mit diesem Schicksal erlebt. Und das Schönste, was ich dadurch erfahren habe: Dem sogenannten Laien ist die Musik so wichtig und so lieb wie dem Professionellen. Nur muss der Laie für diese Liebe oft mehr tun oder sogar leiden als der Professionelle. Und deshalb ist mir Ihre Akademie gleich sehr nahe gekommen. Ich würde gern einen Versuch wagen, in dieser Akademie ein Musikleben zu gründen, das es so noch nicht gegeben hat.
Dass wir Musik brauchen und Musik brauchen können, spricht für uns. Und ich weiß nichts, was so sehr für uns spricht wie das: dass wir Musik brauchen und Musik brauchen können. Warum brauchen wir Musik, warum können wir Musik brauchen? Weil Musik mehr will als ist.
Mit freundlichen Grüßen,
Elsa Frommknecht.
Mit getrennter Post schicke sie Material, das über sie und ihre Arbeit als Auskunft benützt werden könne.
Und es kamen CD s. Judas Maccabaeus, Paulus, Messen. Musik von Händel, Mendelssohn Bartholdy, Schubert, Zeitungsausschnitte.
Percy bedankte sich sofort brieflich. Es gibt eben keine Zufälle, schrieb er. Seine Mutter habe mehr als einmal bekundet, sie fühle sich geleitet. So deutlich muss es einem gar nicht werden, es genüge ja, in dem, was andauernd geschieht, eine Tendenz zu erkennen bzw. eine Bedeutung. Und dass die Lage dieser Akademie so schnell einen Menschen braucht, der ihrem möglichen Sinn entspricht, und dass sie doch dieser Mensch unbestreitbar sei, und dass sie ihm genau in dem Augenblick erscheine, ihm, dem von der Situation zum Umherschauen Genötigten, das alles geschieht aus reiner Notwendigkeit. Er werde nun alles, was von ihr gekommen sei, und auch seinen Brief an sie weiterreichen an Frau Sofja Müller-Sossima. Er nehme an, Frau Müller-Sossima werde sie zu einem Gespräch einladen.
Percy hatte es eilig. Die beiden Toten, die Akademie. Es durfte nichts Verhinderndes mehr geschehen. Und tatsächlich geschah nur noch Günstiges. Die beiden Frauen verstanden einander. Jede bedankte sich bei Percy dafür, dass er sie zusammengeführt hatte. Frau Müller-Sossima schrieb:
Ich begreife jetzt, dass Modest von Ihnen wie von einem Engel gesprochen hat, in dessen Gegenwart man sich
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