Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
ausschwingende Gesicht ihrer Mutter. Ein ebenso zartes wie schweres Gesicht. Schwer nur durch den Mund. Die Lippen sind zu voll für dieses zarte Gesicht. Die Oberlippe lastet schwer auf der ebenso schweren Unterlippe. Ein Mund, der wirkt, als sei er zu schwer, um sich je zu öffnen. Du hast einen unanständigen Mund, Sandra. Sagte er halblaut. Was für eine Welt, dachte er dann, in der man wichtige Sätze nur sagen kann, wenn man nachts allein in einem Zimmer ist. Und tat jetzt so, als müsse er ein Gutachten erstellen über Sandras Gesicht. Das Einzige, was die Unverhältnismäßigkeit von Gesicht und Mund mildert, ist die kleine Warze zwischen dem rechten Nasenflügel und dem rechten Mundwinkel. Diese runde kleine Warzenwölbung tut dem Gesicht gut. Percy dachte, dass er Sandra wegen dieses kleinen Mals lieben möchte. Oder wegen der Haare, die wirkten, als könnten sie das Gesicht jeder Zeit zudecken. Haare, Blick, Mund. Ihre Haare, ihr Blick, ihr Mund. Dass ihre Augen loderten, als sie ihn ansah, das sah er immer noch. Und konnte sich dieses Lodern in nichts übersetzen. Zorn, Trauer, irgendein Schrei, ungerichtet, nicht für oder gegen etwas. Vielleicht ein Lasst-mich-in-Ruhe-Schrei! Ein Ihr-geht-mich-alle-nichts-an-Schrei.
    Ihn beherrschte der Sandra-Vergegenwärtigungszwang, bis er einschlief.
     
    Am nächsten Morgen der Abschied. Alle im äußeren Hof. Drüben, vor dem Portal der Kirche, Fred mit dem Auto.
    Es gab jetzt nur noch Gesten. Händedruck. Umarmung. Innozenz sagte: Teurer Freund! Percy sagte: Lieber Innozenz! Langer Händedruck mit Elsa. Elsa drückte seine Hand kräftiger als er die ihre. Sie sagte: Die Stimmen tragen dich, wenn du kommst. Gleich, wie du kommst. Percy: Danke, Elsa, danke. Dann der Händedruck mit Sandra. Ihre Augen loderten. Er quetschte ihre Hand mehr, als er sie drückte, und sagte: Sandra, Sandra, bis dann! Und drehte sich schnell zu Kirki. Da gelang die Geste leichter.
    Dann nahm er die Reisetasche auf, den Stock und den runden schwarzen Lederhut. Dass er ihn aufsetzte, empfand er als deutlichste Abschiedsgeste. Andererseits dachte er bei jedem Schritt daran, dass Sandra alles, was er nachts gedacht hatte, miterlebt habe.
    Nur Massimo begleitete Percy bis zum Auto. Er trug den Rucksack mit der Urne. Das hatte er sich nicht verbieten lassen. Als alles verstaut war, merkte Percy, dass Massimo weinte. Er dürfe Percy nicht gehen lassen, er habe doch versprochen, auf ihn aufzupassen. Percy streichelte ihn. Massimo drehte sich um. Kirki, die ihm gefolgt war, nahm sich seiner an.
    Fred öffnete die Tür. Aber bevor Percy einstieg, winkte er noch einmal zurück. Und die vor dem Haupteingang winkten auch. Am längsten blieb Sandras Hand in der Luft. Percy konnte sich nicht ins Auto bücken, solange diese Hand so in die Höhe ragte. Also hob er seine Hand auch noch einmal und winkte hastig. Sandra ließ ihre Hand sinken. Percy stieg ein. Fred konnte fahren.
    Als sie über die Brücke fuhren, spürte Percy eine Art Schock oder Schreck oder Schmerz.
    Fred bemerkte es und fragte: Was ist?
    Percy sagte: Sandra. Und gleich dazu: Halt’s Maul, gell.
    Fred: Yes, Sir.
    Im Ort wartete schon Sepp Murr mit Nikolaus Angerpointner. Sie blieben von jetzt an mit ihrem Geländewagen immer dicht hinter ihnen. Als sie schon über der Grenze waren, sagte Percy: Jetzt nach Stuttgart, ins Hildegard-Haus, dann wird gepilgert: Bussen und Heiligenbronn im Frühjahr. Aber Maria Hilf auf dem Welschenberg noch im Dezember.
    Moment, rief Fred. Gepilgert mit mir plus Kamera. Und du sprichst dreimal.
    Sag doch gleich: Du predigst dreimal, sagte Percy. Ich hätte nichts mehr dagegen, wenn du sagen würdest, dass ich dreimal predige. Vielleicht hätte ich, als du angerufen hast, sagen sollen: Fred, lass es, Fernsehen kommt nicht in Frage. Habe ich nicht getan. Und warum: Weil Katze mich kennt. Vom Fernsehen. Nur vom Fernsehen.
    Fred: Du musst nicht gegen das Fernsehen sein, Percy.
    Percy: Weiß ich doch.
    Fred: Das wäre, als wolltest du gegen Düngung sein. Kommt doch darauf an, mit was du düngst.
    Percy: Fred, hast du gesehen, Sandras Augen?
    Fred: Ich hab nur gesehen, dass sie dich angeschaut hat, auch wenn jemand anderes gesprochen hat.
    Percy: Ihr Blick, Fred!
    Fred: Wir nehmen sie in den Film hinein.
    Percy sagte: Sandra ist immun.
    Fred: Deine Naivität gehört ins Vorabendprogramm!
    Und drückte auf einen Knopf. Musik. Laut.
    Fred rief: Wagner. Lohengrin. Ich sammle Wagner. Und drehte den Knopf auf noch

Weitere Kostenlose Bücher