Muttersohn
lauter. Percy war froh, dass er nichts mehr denken musste.
Als sie in Sillenbuch vor dem Hildegard-Heim hielten, sagte Percy: Zwei Stunden. Der Heimleiter sagt, mehr sei unter keinen Umständen möglich. Percy läutete am Gartentor, eine Pflegerin kam, hinter ihr ging er ins Haus. Der Heimleiter empfing ihn in einem Raum, der Wert auf historische Details legte. Bilder, Büsten, Bücher. Nichts jünger als hundert Jahre. Auch die Möbel. Der Heimleiter stellte sich vor: Dr. Curtius. Als er sah, dass Percy von einem Geschichts-Ding zum nächsten schaute, sagte er: Alles von meinem Vater. Dass er es nicht wegwerfen konnte, hat mich dazu verurteilt, es auch nicht wegzuwerfen. Also Ihre Frau Mutter, Herr Schlugen, zwei solche Persönlichkeiten im Heim, dann könnt’ ich zumachen. Ohne sie wäre das Heim eine Stätte gepflegter Langeweile. Ihre Frau Mutter hält uns auf Trab. Hält mich im Trab. Seit sie weiß, dass ich, bevor ich Heimleiter wurde, Historiker war, ist es um meine Ruhe geschehen. Sie werden’s ja erleben. Und ich kann Ihnen sagen, Sie haben Glück. Es gibt auch ganz andere Phasen. Aber jetzt, zur Zeit, ist sie so hell wie schon lange nicht mehr. Ich seh’s, Sie wollen hinauf zu ihr. Kommen Sie.
Droben klopfte Percy selber an die Tür. Keine Antwort. Schließlich drückte er die Klinke. Die Tür war verschlossen. Dr. Curtius sagte: Über den Balkon. Und führte ihn über den Balkon zur Balkontür. Auch die war zu. Dr. Curtius klopfte gegen die Glastür. Klopfte dann ziemlich laut. Schließlich öffnete Mutter Fini. Öffnete und setzte sich gleich wieder an den Tisch.
Dr. Curtius ging, Percy stand und wartete darauf, dass sie ihn anschaue, ihm wenigstens die Hand gebe. Sie sagte, ohne herzuschauen: Setz dich doch.
Er setzte sich in das dürre Sesselchen, das mitten im Raum stand. Im Gegensatz zum Empfangszimmer im Parterre gab es hier nur nichtssagende Möbel und Papierstöße. Auf dem Tisch, an dem sie saß und schrieb, neben ihr, unter dem Tisch, überall Papierberge. Und es roch verraucht. Mutter Fini schrieb von Hand. In der Linken die Zigarette. Ich schreibe nur noch diesen Brief an die Galerie Zibelius in Hannover fertig. Dann sei sie für ihn da. Für den, für den alles, was du hier siehst, geschieht. Die Galerie Zibelius in Hannover hat wahrscheinlich keine Porträts aus unserer Familiengeschichte. Aber da dort mehr Adelsporträts versammelt sind als irgendwo sonst auf der Welt, schreib’ ich hin. Ich habe inzwischen die Familiengeschichte so gut wie lückenlos dokumentiert. Ein Schlugen-Porträt bei Zibelius wäre das Tüpfelchen auf dem i. Dass du Anton Parcival von Schlugen bist, liegt hier auf dem Tisch.
Sie stand auf und zeigte auf die Papierberge.
Percy sagte: Anton Parcival.
Und sie: Von Schlugen.
Ob sie aus Sachsen oder aus dem Badischen gekommen seien, bleibe vorerst unentschieden. Erste Nennung in Siebenbürgen, im Komitat Bihar, mehr vermutet als nachweisbar, Pferdezüchter, Schafe und Büffelkühe, aber seit Maria Theresia gibt es Schlugen in den Akten. Siebenbürgen wird Kronland, in Wien, die siebenbürgische Hofkanzlei, der Adelsbrief wird eingetragen, aber die Schlugens halten es zwischen Rumänen und Magyaren nicht aus, verkaufen das Ihre, ab nach Böhmen, das Schloss kriegst du nicht mehr. In Marianské Lázné. Gehört seit 1945 einem Makler, der mit dem Ministerpräsidenten befreundet war. Die Schlugens sind aber schon vor 1919 dort weg. Sie müssen bankrott gewesen sein. In Zedlers Universallexikon gelten sie noch als begüterter Landadel. Aber seit 1919 sind sie aus den Akten verschwunden. Das Adelsaufhebungsgesetz. Gewählte tun so, als könnten sie, was von Gottes Gnaden verliehen worden ist, mit sogenannten Gesetzen zerstören. Paulus an die Korinther: Er sei zwar der geringste von den Aposteln, aber er sei ein solcher von Gottes Gnaden. Alles, was dir verliehen worden ist von einem, der seinerseits von Gottes Gnaden stammt, kann dir von keinem Gesellschaftsfunktionär genommen werden. Das Adelsaufhebungsgesetz ist Papier, nichts als Papier. Der dir von einem von Gottes Gnaden verliehene Titel ist vergleichbar der Taufe. Du hast nicht mehr als vorher, du bist mehr als vorher. Geweiht. Adel, lieber Anton, ist eine Wesenserweiterung. Eine Ernennung. Der liebe Dr. Curtius widerspricht mir – was ich im Übrigen ganz reizend finde – und sagt: In der Zeit, in der ich die Schlugens von der Hofkanzlei geadelt sehen will, sei der Verkauf von Adelstiteln an
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