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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Thayngen zu Fuß über die Grenze.
    Noch etwas, halb Vorschlag, halb Bitte:
    Lieber Innozenz, verfahre, wie Du denkst, dass es am besten sei. Du kennst meine Angewiesenheit auf das Augenblickliche. Lehren lässt sich das nicht, aber probieren. Das geht nur mit anderen. Stell ins Internet eine Einladung an alle, die kennenlernen wollen, wozu sie fähig sind, wenn sie darauf verzichten, das, was sie anderen sagen wollen, vorher aufzuschreiben. Ich könnte das sozusagen vormachen. Jemand steht vor uns und liest uns vor, was er Wochen oder Tage vorher für diesen Augenblick aufgeschrieben hat. Er hat sich also vorher vorgestellt, wie er vor uns stehe und was er uns dann sagen würde. Dass er jetzt vor uns steht, ist praktisch sinnlos. Wie könnten diese zwei Momente zusammengeführt werden: das Denken und das Sagen. Ich vermute – und das könntest Du, lieber Innozenz, kräftig formulieren –, ich vermute, wenn wir, was wir sagen wollen, nicht mehr vorher der toten Sprache – das ist das Schriftliche – übergeben, wenn wir Denken und Sagen zusammenkommen lassen, und zwar immer und überall, dann werden wir uns selber erleben, wie wir uns noch nicht gekannt haben. Ein Selbsterlebnis, das sich auf unsere Zuhörer direkt auswirken wird: als Leben, als Pfingstmoment usw. Lieber Innozenz, ich möchte das ausprobieren. Ich riskiere das. Ich fühle mich hingerissen zu diesem Versuch und erhoffe eine überraschende Wirkung. Also kündige an – falls Dich, was ich sage, nicht teilnahmslos lässt –: einen Kurs für freies Sprechen. Merke noch an, dass es nichts Sinnloseres geben kann als Rhetorik-Kurse. Das sind Formeln zur Abtötung dessen, was uns möglich ist. Wir müssen UNS entwickeln, nicht eine Technik, die uns helfen soll, uns zu ersetzen. Wir müssen es riskieren, die Leute an der Entstehung unserer Gedanken teilnehmen zu lassen. Wir müssen es riskieren, uns in einem bisher nicht gekannten Ausmaß zu entblößen. Ach nein, Blödsinn. Ich bin so scharf auf diesen Vorgang, weil ich glaube, ich erfahre etwas von mir und über mich, was ich auf keine andere Weise erfahren kann. Also nicht wegen der Leute, meinetwegen sehne ich mich nach solchen Augenblicken. Ob die Leute etwas davon haben, weiß ich nicht. Du hast mich ein wenig verstanden: die Engführung von Denken und Sprechen. Nicht jetzt denken und später, später die tote Schrift vorlesen. Wir haben uns schon ganz verloren. Bis bald, lieber Innozenz, bis sehr bald.
    Dann der Abschied von Chrysostomus und Hedwig. Pfarrer Studer hatte den Pfarrer Anton, seinen Kollegen in Mühlheim, unterrichtet. Percy würde am 22. abends eintreffen und am 23. von Mühlheim aus auf den Welschenberg wandern. Pilgern. Zu den Ruinen der Maria-Hilf-Kirche. Am 24. dann sehr zeitig weiter Richtung Rheinau. Das Tagesziel: Gasthof Schusterfranz. Da wird ihn Massimo erwarten. Hedwig weinte. Chrysostomus gab sich tapfer. Und sie standen, winkten ihm nach, er winkte zurück. Dann ließ er seinen Stock sausen und strengte sich an, ihm zu folgen. Man stirbt nicht auf einmal, dachte Percy. Und fühlte sich wohl.
     
    Jetzt grüß Gott, sagte der Pfarrer Anton und fügte dazu: Anton, grüß Gott. Und nahm Percy Stock und Hut ab und half ihm aus dem Rucksack und aus dem Mantel, der eher ein Mäntelchen war. Percy brauchte, wenn er ging, freie Knie. Dann saßen sie in der Stube einander gegenüber und aßen und tranken. Der Pfarrer, sicher doppelt so alt wie Percy, hatte mit dem Essen gewartet. Dass das Pfarrhaus, wohin man sah, mit Büchern und Bildern prangte, hatte Percy schon durch staunendes Umherschauen auszudrücken versucht.
    Ich hätte Seelen sammeln sollen, und was habe ich gesammelt, sagte der Pfarrer, Bilder und Bücher. Da sei der Wert schneller erkennbar als bei den Seelen. Der Pfarrherr war über Percy unterrichtet. Percy war also ein Besucher, von dem er sich verstanden fühlen wollte. Dass sie beide Anton hießen, freute sie beide. Dann sank Percy ins Bett.
    Am nächsten Morgen, als er hinunterkam, war der Pfarrherr längst wach. Er war so fröhlich wie am Abend. Aber kein bisschen laut. Am Vorabend war er lauter gewesen als jetzt. Er hatte offenbar ein Gespür dafür, wie laut man am Morgen sein durfte. Auf jeden Fall erlebte Percy die Art, wie der Pfarrer mit ihm umging, als Rücksicht. Er hätte gern gesagt: Jetzt sei doch nicht so rücksichtsvoll. Aber er war nun schon in der Rolle des Zuhörers.
    Dann der Gottesdienst. Percy ließ ihn über sich ergehen wie ein

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