Muttersohn
ein Wappentier bräuchte, es wäre das Rothkehlchen. Jetzt mein Traum: Ich hänge mein T-Shirt auf einem Bügel vors Fenster zum Trocknen. Ein Rothkehlchen setzt sich auf die Hemdschulter. Fliegt wieder weg. Ich verstehe das als eine Aufforderung. Ziehe das Hemd an, stehe am offenen Fenster, das Rothkehlchen fliegt her, setzt sich auf meine Schulter und sagt mir ins Ohr: Machdr nüt druus.
Das war im Sommer. Ich war in der Schweiz. Da sprechen die Rothkehlchen natürlich nicht schriftdeutsch. Mach dir nichts draus. Als mir im Sommer das Rothkehlchen das ins Ohr sagte, hab ich noch nicht gewusst, was gemeint war. Jetzt, da ich sagen muss: Lass mich nicht allein, jetzt weiß ich, auf was das Rothkehlchen mich vorbereiten wollte.
Percy senkte den Kopf. Er widerstand der Versuchung, die Hände zu falten. Es war eine Hilfe, dass es jetzt angefangen hatte zu schneien. Die Flocken fielen wie vorsichtig. Als wüssten sie noch nicht recht, wohin.
Lass mich nicht allein.
Andererseits, wenn dir nichts wehtut, gibt es dich nicht. Den Schmerz willkommen heißen. Das üb’ ich, wie andere Klavier oder Geige. Aber ein Virtuose werd’ ich nicht. Das versprech’ ich euch. Das wisst ihr schon von mir, dass ich gegen nichts bin. Wie könnte ich dann gegen den Schmerz sein. Ich übe hier schon. Vor euch. Was ich vor euch gesagt habe, muss ich halten.
Das dauert, bis man allem, auch dem Schmerz, zustimmen kann. Aber wenn man dem Zustimmenkönnen näher kommt, nimmt ein Segen zu. Ein neues Selbstgefühl. Schon die Annäherung hat Unterschiede in der Welt erlöschen lassen. Dann gibt es keine mehr. Du hast den Zustand des Allem-zustimmen-Könnens erreicht. Hoffentlich nehmen die, die sich jetzt genötigt sehen, mich zu schimpfen oder zu schmähen, mir nicht übel, dass ich ihnen genau so zustimme wie denen, die mich herzlich gelten lassen. Ich will nicht sagen, das, was gegen mich gesagt werden muss, sei nichts wert. Ich will jedem Versuch, mich lächerlich zu machen, mich zu vernichten, zustimmen. Wenn es aussieht, als sei ich schon fast erschöpft vor lauter Zustimmung, dann täuscht das. Im Gegenteil. Ich bin beseligt. Erfüllt vom Glücksgefühl. Der Frieden ist ausgebrochen. Erklärte und nicht erklärte Kriege hören grundlos auf. Sie hören auf, als hätte es sie nie gegeben.
Auch wenn mich das zunehmende Schneien kühner macht, als ich bin. Das Schneien macht die Welt schön. Unsere wichtigste Begabung: Wir finden etwas schön. Der Hass findet alles hässlich. Die Liebe findet alles schön. Jeder setzt sich jetzt seinen Hut auf wie einem anderen.
Er setzte sich seinen runden Lederhut auf. Und sagte:
Es schneit so schön, wie es noch nie geschneit hat. Ich habe gerade Sätze gesagt, die weiter gehen als ich. Und lasse mir von Emanuel Swedenborg, dem heiligen Geist aus dem Norden, gesagt sein: Die Fehler stammen von mir, nicht aber die Wahrheiten.
Dann sagte er überlaut und ganz hell:
Jetzt übernimmt Pfarrer Anton. Komm!
Und Pfarrer Anton, der ganz unbemerkbar in der Ruine, in einer Art Sakristei, verschwunden war, trat jetzt heraus, angetan mit Alba und Stola, die er im Rucksack heraufgetragen hatte.
Er begann mit dem Kreuzzeichen, das machten alle mit.
Dann sagte er:
Seht, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde,
und dessen, was vorher war, wird man nicht mehr gedenken.
Freude wird sein und Jubel über das, was ich schaffe.
Die Leute: Halleluja.
Der Pfarrer: Komm, Herr Jesus! Dir sei Lob und Ehre in Ewigkeit.
Die Leute sagten: Amen.
Dann stimmte er an:
Gegrüßest seist du, Königin,
erhabene Frau und Herrscherin,
o Maria, o Maria.
Freut euch, ihr Kerubim,
lobsingt, ihr Serafim,
grüßet eure Königin:
Salve, salve, salve, Regina.
Percy fühlte sich wohl bei diesem Lied. Er genoss die innige Inhaltslosigkeit.
Nach dem Lied segnete der Pfarrer die Leute, die jetzt eine Gemeinde waren:
Den Weg des Friedens führe uns der allmächtige und barmherzige Herr. Sein Engel geleite uns auf dem Weg, dass wir wohlbehalten heimkehren in Frieden und Freude. Und morgen eine schöne Weihnacht feiern.
Die Leute sagten: Amen.
Dann gingen sie auseinander, der Pfarrer verschwand wieder in der Kapelle, Percy stand und sah zu, wie die Flocken allmählich dichter fielen. Er setzte seinen runden Lederhut, den er während der Andacht wieder abgenommen hatte, wieder auf.
Jetzt der Psalm, sagte er. Mein Freund, er ist schon tot, war ein Psalmist. Ihm folg’ ich.
Und ganz hell, fast hoch, sagte er hinaus
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