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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Wachenden haben eine gemeinsame Welt. Die Verlassenen auch, sage ich. Wer ist denn nicht verlassen.
    Leute, die sich selbst genügen, sind mir unheimlich. Ich, der Verlassene, bin mir nicht genug. Verlassen zu sein, ist ein Schuh, der auch drückt, wenn man ihn nicht anhat.
    Die Höhle in jedem von uns, in der das Dunkel Platz hat, das zu uns gehört, dürfen wir Gott nennen. Und sei sie leer, diese Höhle. Leute, denen die Leere fremd ist, sind mir fremd.
    Lasst die Leere zu. In ihr ist Gott daheim. Er ist sich nicht zu gut, der Lückenbüßer zu sein für jeden Mangel der Welt. Kümmert euch nicht um Gott, wenn Gott sich nicht um euch kümmert. Dann erst spürt ihr, wie er sich um euch kümmert. Mein Souffleur Emanuel Swedenborg sagt:
    Diese Nacht schlief ich ganz ruhig. Ich konnte die Augen öffnen, wenn ich wollte, war also wach. Von einer Freude erfüllt, die empfand ich am ganzen Körper. Alles wollte empordrängen, in die Höhe fliegen und dort in einen höchsten Mittelpunkt münden. Diese höchste Mitte, das war der Ort der Liebe. Alles war ein Kreisen um die Liebe.
    Wo Liebe fehlt, springt Hass ein. Ich kann sagen, was ich erfahren habe. Es gibt Menschen, die haben etwas gegen andere, ohne dass diese anderen etwas gegen sie haben. Es gibt den Unwillen von Menschen gegen andere. Sie finden etwas, was ihnen an anderen nicht gefällt. Dann verurteilen sie die anderen. Dadurch, dass sie andere verurteilen, sind sie unwillkürlich besser als die, die sie verurteilen. Mit jedem Verurteilungsakt werden sie größer, besser, vielleicht sogar berühmter.
    Ich darf nicht sagen, sie verurteilen andere, machen andere herunter, um selber besser und größer dazustehen. Dass sie durch das Runtermachen anderer sich selber deutlicher werden, ist sicher. Aber dass sie andere heruntermachen, um selber besser dazustehen, darf man nicht sagen.
    Die Heruntermacher bersten vor Gründen.
    Lieben braucht keinen Grund.
    Lieben, bevor wir geliebt werden!
    Lieben, nachdem wir geliebt worden sind!
    Uns geht die Sonne immer auf. Den Heruntermachern geht sie immer unter.
    Die Heruntermacher würden den, den sie vor unseren Augen heruntermachen, kaum heruntermachen, wenn sie ihm allein am Meer oder in der Wüste begegneten. Das ist unsere Rolle: Das Heruntermachen findet statt, weil wir zuschauen. Je mehr wir den Heruntermacher zur Kenntnis nehmen, umso größer wird er. Jetzt nähere ich mich dem fundamentalen Geständnis: Ich finde das Hassen, das Heruntermachen nicht schön. Es findet statt als Kunst. Gerade stand in der Zeitung, ein berühmter Heruntermacher habe in einem Buch geschrieben, sie, also die Heruntermacher, seien genau so verlogen wie die, denen sie diese Verlogenheit andauernd vorwerfen und derentwegen, habe er in einem Buch geschrieben, sie diese Leute fortwährend in den Schmutz ziehen und verachten. Wir sind überhaupt um nichts besser, habe er, stand in der Zeitung, geschrieben. Das wurde dem Heruntermacher hoch angerechnet, dass er sich selber nicht besser findet als die Heruntergemachten. Tatsächlich wäre dem, der heruntergemacht wird, geholfen, wenn der Heruntermacher sich selber auch abstoßend fände. Aber während der Heruntergemachte immer im Singular umständlich genau heruntergemacht wird, löst sich der Heruntermacher im Plural auf: WIR sind überhaupt um nichts besser, hat er geschrieben. Und warum nicht auch im Singular: Ich bin überhaupt um nichts besser? Das ist ein welterschütternder Unterschied. Im Heruntermachergelände: hohe Kunst. Aber mir bleibt die Luft weg, wenn ich einen Heruntermacher erlebe. Ich brauch’ dann dringend etwas Schönes. Zum Glück stellt sich ein die Szene aller Szenen. Der Engel Gabriel kommt zu Maria und sagt, sie soll die jungfräuliche Mutter des Gottessohns werden. Schöner kann keine Botschaft sein. Maria, die Leihmutter, vom Heiligen Geist gewählt. Und sie wehrt sich nicht. Sie tut’s. Das ist die tollste Story, die je erzählt wurde. Der schönste Einfall, den Menschen je hatten. Bei mir gibt an einer Story immer der Schönheitsgrad den Ausschlag. Und genau an einem solchen Tag kommt Fräulein Hedwig zurück. Sie hat gesagt: Dem Leben zuliebe kommt sie zurück. Ein Satz wie ein Hochsprung.
    Je schöner eine Vorstellung ist, umso willkommener ist sie mir.
    Jetzt sehe ich die Flamme auf euren Köpfen. Ich hoffe, ihr seht die Flamme auf meinem Kopf. Ich spüre die auf meinem Kopf landende Wärme. Und fährt ein in mich und durch mich durch bis in die Zehenspitzen.

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