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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Selbstbewusstsein der Schreibenden. Moment, das muss ich dir vorlesen, ein Friedlein Vogel, inzwischen auf Station II , wenn es dich überhaupt interessiert.
    Es interessiere ihn sehr, sagte Percy, Friedlein Vogel sei er persönlich begegnet.
    Innozenz: Horch! Ihrer Lektüre nur wenig vorgreifend, weise ich darauf hin, dass mein Schreiben nichts anderes ist als Abschied, das Ritual eines endlosen Abschieds, der immer weitergetriebene Versuch, die aus dieser Befindlichkeit jede Stille blutend durchblühenden Erfarungen und die darin begründete unermessliche Fruchtbarkeit zum Ausdruck zu bringen. Gut, gell.
    Percy schüttelte sich ein bisschen, als wolle er etwas loswerden.
    Innozenz noch einmal: Gut. Oder?
    Percy sagte: Gut.
    Und Innozenz: Das heißt doch was, dass ich Dichter entdecke. Nur noch Dichter! Das spricht sich herum. Die sagen es einander. Dichter, Percy, das sind die wahren Menschen. Gestern schrieb mir der Dichter Hans Kleiber: Das Leben ist schön. Weil es endet. Endete es nicht, wäre es nicht schön. Und der ist abgelehnt von allen Verlagen. Aber die Verlage sind unschuldig. Die Verlage sind die Welt. Und die Sensation, unbescheiden, wie ich zu sein habe, sage ich meine Sensation: Die Scherblinger Anthologie ist die einzige Anthologie der Welt, in der keine Zeile veröffentlicht wird, die schon sonst wo zu lesen war! Gut, gell?!
    Und wie, sagte Percy.
    Percy, Percy, Percy! Die Welt strotzt vor Bedeutung. Sag doch du mir, ob es mir auffallen darf, dass seit drei Wochen alle Manuskriptsender Vogelnamen haben. Raabe, Fink, Kleiber, Adler, Stieglitz. Und davor wochenlang nur Vegetation. Gewachsenes. Herr Esche, Herr Fichte, Herr Busch, Frau Gerster, Herr Kleie, Frau Weidenmann, Herr Dorn, Frau Strauch.
    Er wartete offenbar darauf, dass Percy aus dieser Aufzählung etwas lerne. Weil der nichts sagte, sagte er, er habe immer schon diese Schwäche gehabt, von Bedeutungen bestürmt zu werden. Gib jetzt zu, dass du glaubst, alles, was ich hier mache, sei nur ein Vorwand, um mich vor dem Hauptwerk zu drücken. Ich weiß, das kannst du aus lauter Herzenshöflichkeit nicht zugeben. Vom Hauptwerk bin ich nicht ablenkbar. Durch keinen anthologischen Schlenker. Ein Briefroman, das Hauptwerk. Der Dichter schreibt an einen Zeitgenossen, der ihm der Wichtigste Mensch ist. Der Autor schreibt den einen Brief als Jude, den nächsten Brief als Faschist, den dritten als Millionär, den vierten als Sozialist, den fünften als Franziskanerin, den sechsten als dreimal geschiedene Frau, den siebten als noch nicht erwischter Kinderschänder, den achten als lebenslänglich eingesperrter Mädchenmörder, den neunten als betrogener Erfinder, den zehnten als bankrotter Einzelhändler, den elften als unerziehbare Mutter. Der Wichtigste Mensch sammelt, was ihm vom Dichter geschickt wird. Er muss sich alles, was ihm geschrieben wird, gefallen lassen, weil es ihm bessergeht als dem Schreibenden. Verstehst du, Percy! Das ist seine Schuld, dass es ihm bessergeht. Das ist das, was der Dichter will, den Wichtigsten Menschen davon überzeugen, dass es ihm bessergehe als denen, die ihm schreiben. Das gelingt dem Dichter. Aber dann, wenn alle Briefe von allen durch ihre Leidensfähigkeit überzeugenden Figuren geschrieben, abgeschickt und vom Wichtigsten Menschen gelesen sind und der Wichtigste Mensch dann zugeben muss, er habe durch die vom Dichter an ihn geschriebenen Briefe lernen, einsehen und zugeben müssen, es sei angesichts dieser Existenzmitteilungen nicht zu rechtfertigen, dass es ihm so gut geht, wie es ihm nun einmal gehe, dann erst holt der Dichter aus zum allerletzten Brief, darin steht, ihm, dem Dichter, gehe es besser als allen seinen elenden Figuren und ihm gehe es auch unendlich viel besser als dem Empfänger dieser Briefe, der ja doch wohl die windigste Sorte Mensch sein müsse, wenn er sich dadurch, dass es anderen schlechtergeht, den Tag und den Abend verderben lasse. Er, der Dichter, schwebe selig über gar allem, was ihm nur Stoff ist für seine Ausdruckslust. Und seine Rechtfertigung, Percy, es ist alles EIN TEXT . Keiner und keine darf ausgeschlossen sein. Du denkst nicht, ich unterschlage, dass du es warst bei deinem vorletzten Besuch vor zwei Jahren, dass du die Scherblinger Anthologie befohlen hast. Ich habe damals nichts gesagt zu deinem Befehl. Ich habe gedacht: Er traut mir das Hauptwerk nicht zu. Er erfindet mir eine Ausrede. Ich war beleidigt, monatelang, dann nicht mehr. Jetzt bin ich glücklich. Jeden Tag

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