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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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nur noch sie, sie, sie. Ein Pfleger nahm ihn mit. Er rief ihr noch seinen Namen zu. Florian Distel.
    Monate später, als sie zu einem Kontrollbesuch im Spital war, sagte der Arzt, dieser Florian Distel sei übrigens ausgebrochen, habe es geschafft, bis Gellnau zu kommen, dort sei er, am Argenufer sitzend, erfroren. Sie erinnerte sich daran, dass sie ihm von Gellnau und von der Argen erzählt hatte, vom Tod ihres Vaters, dass der ihr, kurz bevor er gestorben sei, gesagt habe: Du wirst es schaffen, und dass sie von diesem Satz lebe. Dieser Florian hat ihr auf der Bank im Hospitalgarten Liebesanträge zugeflüstert.
     
    Eines Tages wagte sie nicht mehr, beim Intendanten im Marquart zu erscheinen. Sie genierte sich zu sehr. Er so hilfswillig. Und sie so unfähig, dieser Hilfe würdig zu sein. Aber sie fand wieder eine Stelle, eine sehr gute sogar. In der Kleiderburg in der Kriegsbergstraße. Was sie da eigentlich zu tun hatte, hat sie mir nie gesagt, sagte Percy. Überhaupt, wir nähern uns jetzt dem alles entscheidenden Jahr: 1977. Mein Geburtsjahr. Einigermaßen vorstellbar war noch, wie sie ihre Entlassung aus der Kleiderburg erzählte. Im Herbst 77. Gefeuert, weil sie nicht nur nicht mitgetrunken hatte, als die Kolleginnen und Kollegen die Selbstmorde der Ensslin, Meinhof und Baader am hellen Tag mit Sekt begossen, sie hatte denen auch noch eine vor Entrüstung bebende Rede gehalten. Da forderten die sofort vom Chef die Entlassung dieser Terroristen-Sympathisantin; und der Chef sprach die Entlassung sofort aus, brachte Fini aber noch zur Tür und sagte, als sie schon im Freien standen: Mir tut’s leid, Fini, Sie wissen, wie hoch ich Sie immer geschätzt habe. Und Sie jetzt, unter diesen Umständen! Und habe auf ihren hochschwangeren Bauch gezeigt. Sie sei zu Fuß zurückgegangen in die Metzstraße. Unterwegs habe sie ein paar Zeilen aufgesagt, die Arno immer und immer wieder in seiner Betrunkenheit ausgerufen habe: Die Abendluft wurde gelb und rot. Wortgeflatter und Gelächter überall. Der beinerne Mond gaffte aus seinem Hexenring. Sie habe zum Himmel geschaut, da sei der Mond tatsächlich droben über dem Killesberg im Himmel gestanden, habe aber nicht gegafft, sondern gegrinst. Kam ihr vor. Sie fühlte sich, weil sie schwanger war, unangreifbar. Ihr war nichts so fremd wie Angst. Sie hatte das Gefühl, sie könne überall und immer sagen, was sie denke. Und was sie dachte, war: Die armen Terroristen.
     
    Percy erwartete nicht, dass Ewald etwas sage. Heute stand er auf wie einer, der genau weiß, dass er alles gesagt hat, was er hat sagen können. So einem kann es dann auch gleichgültig sein, was jemand, der zugehört hat, sagt über das, was er gehört hat.
    Wurde er jetzt doch ungeduldig?
    Auf jeden Fall verbot er sich Ungeduld. Ziellos erzählen, das ist das, was du tun musst. Zum Glück gab es die Tu-autem-Formel. Die half ihm jedes Mal hinaus.
    Sobald er auf seinem Zimmer war, wusste er: Jetzt eine Pause.
    Zwei, drei, fünf, vielleicht sieben Tage kein Besuch bei Ewald. Dass der Zeit hat. Dann wird man sehen.

6.
    Das hat aber gedauert, sagte Innozenz, als Percy auf sein Herein eingetreten war.
    Zuerst musste sich Percy tatsächlich wundern. Die historische Ofenküche hatte vielleicht zehn oder vierzehn Quadratmeter gehabt. Jetzt im barocken Dreiecksgiebel des Alten Torhauses, das war fast ein Saal. Mit schrägen Wänden, aber ein Saal, von dem in der Rückwand auch noch Türchen weiterführten. Und schon voll mit Regalen. An den Wänden entlang und quer in den Raum gestellte.
    Der Eindruck: überfüllt. Daran hatte sich nichts geändert. Der drei- oder viermal so große Raum wirkte genau so überfüllt wie vorher die enge, dunkle, steinerne Ofenküche.
    Innozenz ließ es nicht zu, dass Percy sich dafür, dass er erst jetzt komme, entschuldige. Deines Interesses, mein Percy, bin ich gewiss.
    Innozenz war nicht klein, aber gebeugt, eher noch: gebogen. Ein mächtiger runder Rücken und darauf, ohne jeden Hals, ein großer runder Kopf. So kam eine Haltung zustande, die Innozenz, wenn er sich nicht anstrengte, vor sich hin schauen ließ. Da sein Blick sich so gut wie immer auf vor ihm liegende Papiere richtete, war das eine günstige Haltung. Wenn er einem Menschen gegenüber war, musste er sich aufrichten. Das ging aber nicht. Also musste er seinen Blick nach oben schieben. Die Stirn hochziehen und die Augen ganz nach oben drehen, sodass, was Farbe hat im Auge, fast nach oben hin verschwand, übrig blieb das

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