Muttersohn
bloße Weiß. Bei jedem anderen hätte man das für einen bösen Blick halten können, nicht bei Innozenz. Er streckte ja seine Händchen am mächtigen Leib entlang, dem Besucher entgegen. Die Arme wirkten neben diesem Leib wie Ärmchen. Man befürchtete, die Händchen werden nicht weit genug nach vorne kommen. Aber sie kamen. Das wirkte. Das war die reine Herzlichkeit. Und eben dadurch drückte der nach oben geschobene Blick nichts Böses aus, sondern allenfalls Traurigkeit. Der Mund war eine Traurigkeitssichel. Wenn Innozenz von seinem Gesicht nicht das Gegenteil verlangte, weinte es. Schön wurde Innozenz durch sein nur millimeterhoch, aber dicht stehendes silbernes Haar. Kein bisschen weiß war dieser Kopf bedeckt, sondern silbern.
Innozenz stand schon, hatte schon seine Ärmchen ausgebreitet und rief, als Percy ihn noch gar nicht erreicht hatte: Ich, ein Okkupant, Percy, was sagst du dazu! Ich bin doch durch und durch ein Okkupierter! Der Verwaltungstyrann Dr. Geierlein, der mir nichts von dem gönnt, was du hier siehst, nennt mich einen Okkupanten.
Weil er alle Namen so änderte, dass sie das aussagten, was die Namensträger für ihn waren, wurde aus Dr. Beierlein Dr. Geierlein.
Der Herr Direktor Geierlein ist der General der Scherblinger Okkupantengarde. Dr. Schluderhose liefert den Kauderwelsch, mit dem hier geherrscht wird. Die Chemiekeule, Percy. Der Professor schützt mich. Er und ich sind eine Verschwörung. Gegen die Chemiekeule. Du, der Gnadensohn des Professors, und ich, wir sind die Verschwörung. Ich ein Okkupant, Percy! Wenn Dr. Schluderhose mir draufkommt, dass ich der Chemiekeule entkommen bin, kreuzigen sie mich. Oder auf den Scheiterhaufen mit mir. Das ist dann nur noch eine Frage des Wetters. Aber mit Heine-Schumann zu reden, beziehungsweise zu singen: Ich grolle nicht. Glücklich, wer so von morgens bis abends okkupiert wird. Von der ganzen Welt. Du siehst es, die Postflut steigt, es hat sich herumgesprochen und herumgemailt – er zeigte auf den Computer –, wem die Hoffnung kränkelt, der flieht zu Innozenz. Du warst hier genau vor zwei Jahren. Am 17. Mai. Du bist drüben, auf dem Weg vom Ärztehaus zum Springbrunnen, vom Wolkenbruch überrascht worden und hast mir, als du patschnass angekommen bist, gesagt, warum du nass geworden bist. Du hast gesehen, alle Patienten, die gerade auf dem Anstaltsgelände unterwegs waren, sind nicht unters nächste Dach gerannt. Alle Ärzte, Pfleger, Besucher und so weiter haben sofort unterm nächsten Dach Schutz gesucht. Da hast du gewusst, wo du hingehörst. Und warst, als du in die Ofenküche gekommen bist, patschnass.
Sag mir jetzt, wie’s dem Hauptwerk geht, sagte Percy.
Pschscht, sagte Innozenz. Er ließ einen energisch durchgebogenen Zeigefinger vor dem Mund hin und her ticken und bewegte sich auf Percy zu.
Er legte Percy beide Hände auf die Schultern. Da sie beide gleich groß waren, musste er die Augen nicht nach oben drehen. Auge in Auge standen sie. Percy wurde von einer Empfindung ergriffen. Er sei ein Engel ohne Flügel, hatte seine Mutter gesagt. Aber der doch auch. Innozenz und er, zwei Engel ohne Flügel. Hatte er sich je einem Menschen näher gefühlt? Und wie gut dieser gebogene Mensch unter die Dachschräge passte! Wieder eine Harmonie. Innozenz nahm die Hände von Percys Schultern und sagte: Willkommen! Ich bin ein mnemotechnischer Wiedergeburtshelfer.
Dann sagte er: Frag ruhig nach dem Hauptwerk.
Also, Schriftsteller Innozenz, sagte Percy, was macht das Hauptwerk?
Das Hauptwerk, flüsterte Innozenz, hat mich um Verschiebung gebeten. Ich soll’s verstecken, hat es gesagt. Ich hab’s getan. Es ist gerettet. Hier im Raum. Aber unauffindbar für die Spürhunde des Zeitgeists. Sprich den Titel jetzt nicht mehr aus. Das sagte er noch leiser. Darum bin ich Innozenz geworden, darum wurde die Scherblinger Anthologie gegründet, Fünfundzwanzig Bände plane ich, Titel: OFENKÜCHE . Vom Hauptwerk wird nicht mehr geredet. Die Feinde, die ich mir mit diesem Ehrgeizprojekt geschaffen habe, müssen eingeschläfert werden. Fünfundzwanzig Bände OFENKÜCHE . Die Scherblinger Anthologie. Bis die Zeitgeister vergessen haben, dass sie mich verhindern wollten an dem, wofür ich auf die Welt gekommen bin. Aber die Scherblinger Anthologie ist längst mehr als ein Lückenbüßer. Da, der Tisch für das Tägliche! Da, heute eingetroffen: der erste kosmopolitisch-weltkritische Roman, Titel: Asche und Urne, 752 Seiten von Troilus Barrack von
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