Muttersohn
Es hat niemand eine Prüfung bestehen müssen, aber alle hatten eine Prüfung bestanden. Diese Elsa, hatten sie sie noch genannt. Aber am nächsten Freitag und an allen kommenden Freitagen hieß sie nur noch Elsa. Sie gab mir – und das gehörte sich eigentlich unter uns auch nicht –, sie gab mir immer einen Korb voll Genießbarkeiten mit für die Buben. Dass das sein durfte, sagte am deutlichsten, dass Elsa gewonnen hatte. Etwas mitbringen, was eine Beziehung nach außen ausdrückte, war ausgeschlossen. Nichts, was von einer Mutter, von einer Schwester, von einer Freundin oder von einer Frau stammen konnte, durfte mitgebracht werden. Was mitgebracht wurde, sollte jeder, der es mitbrachte, selber gekocht oder gekauft haben. Aber ich, da ich schon die Ausnahme war, durfte mit Elsa eine Ausnahme sein. Dass das überhaupt nicht diskutiert werden musste, machte mich glücklich. Meine Bindung an die Buben steigerte es.
Dann passierte es.
Der Sündenfall.
Die Ballon-Verfolgungsfahrt. 1999, am 8. Juni. Veranstaltet vom Bayerisch-Württembergischen Automobil-Club. Der Freiballon OMO der Ballongruppe des Aero-Clubs der Schweiz wurde gefüllt vom Städtischen Gaswerk in Lindau. Mitmachen konnte jeder Autofahrer. Das Nenngeld fünf Mark für Mitglieder des Clubs, für Nichtmitglieder zehn. Ob ich als Motorradfahrer teilnehmen dürfe, hatte zuerst von der Jury des Bayerischen Automobil-Clubs beraten werden müssen. Ich durfte.
In der Nacht davor ist Elsa von einem Traum geweckt worden. Sandra sei in Todesgefahr. Elsa konnte nicht mehr einschlafen. Um acht Uhr, bevor ich abfuhr nach Lindau, rief sie Sandra an. Ja, sie hat gestern die Diagnose bekommen. Die wieder geschwollene Zyste an ihrer Schilddrüse muss sofort operiert werden. Elsa will sofort nach München, zu Sandra. Ich nach Lindau. Zur Ballonverfolgungsfahrt. Unsere Abschiede waren immer heftig. Wir hielten einander immer lange umarmt. Wir waren seit neun Jahren verheiratet und konnten einander jeden Tag sagen, dass wir noch keinen glücklosen Tag verbracht hatten. Eine Art Angst, die aus unseren Lebensgeschichten stammte, schärfte jeden unserer Abschiede. Wenn Elsa als prominente Chorleiterin mit einem ihrer Chöre auswärts ein Konzert geben, also über Nacht fortbleiben musste, klammerten wir uns beim Abschied an einander, als stehe etwas Schlimmes bevor. Diese Angst war immer meine Angst. Dass etwas auf die Dauer gutgehen konnte, hatte ich nicht gelernt. Also umklammerte ich Elsa immer heftiger als sie mich. Sie hatte mich aus meiner verpfuschten Biographie gerettet. Aber dass auf mich ein Missgeschick lauerte, war in mir immer gegenwärtig. Elsa hatte durch den Vater ihrer zwei Töchter genug mitgemacht. Was ihr mit diesem unglückseligen Hochstapler passiert war, konnte jeden Tag, jede Nacht wieder grell werden. Dann musste ich ihr beweisen, dass das alles vorbei war. Dieser Adalbert von Rauch würde sich hüten, je wieder aufzukreuzen. Aber am Hochzeitstag konnte sie mich nur wider besseres Wissen heiraten. Nie wieder einen, den sie liebt. Mich hatte sie vom Stottern geheilt. Ich habe von Elsa atmen gelernt. Aber die Angst, dass sich mir die Sprache wieder verweigern könnte, blieb. Tatsächlich war mein Sprechenkönnen an Elsa gebunden. Manchmal, wenn sie schon im Auto sitzt, sagt sie, bevor sie die Tür zumacht: Ich bin froh, dass du dich für mich entschieden hast. Ich sage: Ich bin viel froher, dass du dich für mich entschieden hast. Ich hätte sie so gern nach Wangen zum Zug gebracht. Aber sie hatte sich noch kein einziges Mal, auch nur probeweise, auf den Sitz meiner 1200 R gesetzt. Sie sagte: Ich betrüge dich mit meinem Golf, du betrügst mich mit deinem Donnerding. Das war Spaß. Wir wussten, dass wir einander nie betrügen würden. Unsere Lebensgeschichten waren auf einander zugelaufen, wir hatten einander staunend kennengelernt, staunend darüber, dass wir so zusammenpassten. Und das lag an unseren Lebensgeschichten. Ihr Erfahrungsschmerz war, als wir uns trafen, noch ganz frisch. An unserem ersten Abend taten wir beide so, als sei das Leben etwas Lustiges. Sie sagte: Das Einzige, was ich von einem Mann erwarte, ist, dass er nicht schnarcht. Der langhaarige Schlaks hat geschnarcht. Das nie mehr. Aber er war musikalisch, sagte sie plötzlich ganz ernst. Sie verlange nicht, dass ein Mann musikalisch sei, aber er darf nicht unmusikalisch sein. Wer unmusikalisch ist, ist unerreichbar, sagte sie. Und fügte hinzu: Für mich. Mich hatte sie in
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