Muttersohn
ihrem Studio mit tausend Tönen musikalisch behandelt. Und sagte an unserem ersten Abend: Du hast ein Gehör. Und du hast eine Stimme. Diese Prüfung hatte ich offenbar bestanden.
Als sie von ihren zwei Chören erzählte, vom Vokal-Ensemble in Wangen und vom Talentissimo-Chor in Ravensburg, konnte ich melden, dass ich als Studienreferendar im Quenstedt-Gymnasium in Mössingen meine größten Erfolge mit einer Musik- AG erntete und drauf und dran war, einen Schulchor zu entwickeln, was aber vom Oberschulamt in Tübingen so gut verhindert wurde, dass ich zum Stotterer wurde. Sie sagte: Du bist ein Schicksalsglücksfall für mich. Nein, sagte ich, du für mich! Wir für uns, sagte sie.
Ich spürte, dass ich die Ballonverfolgungsfahrt absagen musste. Sandra, dieser innigste Mensch, den ich kenne, Sandra wird operiert. Elsa muss hin. Aber doch nicht allein. Sandra würde erwarten, dass ich an ihrem Bett stünde. Sandra war hilflos gegenüber jeder Art von Stimmung. Sie stimmte ununterbrochen zu. Offenbar glaubte sie, dass so auch ihr nur mit Zustimmung begegnet werde. Sandra kam mir vor, als wäre sie meine Tochter. Wenn sie zu Besuch kam, redeten Sandra und ich oft noch auf einander ein, während Elsa längst schlief. Laura war zwar gefestigter, aber ihre Stabilität verdankte sie ihrer Bereitschaft, alles zu verneinen. Sie ließ nichts gelten. Sandra ließ alles gelten. Laura wusste, dass nichts gut sei. Wenn ich sagte: Laura, du bist so negativ, sagte sie: Und du so naiv. Lief blaurot an, nicht nur ihr Gesicht, alle Haut, die man sah, stand auf, rannte aus dem Zimmer, ich ihr nach, sie saß auf ihrem Bettrand, blass jetzt, sah aus, als friere sie. Elsa sagte, Laura habe als Kind, wenn man ihr widersprach, Erstickungsanfälle bekommen. Das sogenannte Wegbleiben. Sandras unerschöpfliche Zustimmungsbereitschaft und -fähigkeit ist offenbar gewachsen durch Lauras Verneinungskraft. Laura hat es schon fertiggebracht, Sandra in meiner Gegenwart zu schlagen. Vielleicht hat sie Sandra sogar besonders gern in meiner Gegenwart geschlagen. Sie hat es genossen, dass ich nicht eingegriffen habe. Ich bin jedes Mal aufgestanden und aus dem Zimmer gegangen. Elsa sagt, Laura habe Sandra schon geschlagen, als ich noch nicht im Haus war. Als ich einmal zu Laura gesagt habe, dass ich das nicht begreife, sie, ein schönes junges Mädchen, dem es an nichts fehle, schlägt die um zwei Jahre ältere Schwester, sagte sie: Wenn ich die Archivarin nicht gelegentlich prügle, weiß sie überhaupt nicht mehr, was los ist in der Welt. Gewalt gehört zum Stoffwechsel. Und ließ mich stehen.
Laura ist inzwischen Kindergärtnerin in Augsburg, verheiratet mit einem Afrikaner, den sie sich selber geholt hat aus dem Kongo. Den schlägt sie auch, aber der lacht sie aus, wenn sie ihn schlägt. Moise arbeitet als Kellner, aber so oft er freihat, hilft er Laura im Kindergarten. Und seinem unerschöpflichen Fröhlichkeitstalent verdankt es Laura, dass ihr Kindergarten mit einem Preis ausgezeichnet wurde. Sie sagt das auch gern, dass sie Moise ihren Erfolg verdanke. Aber verhauen müsse sie ihn trotzdem dann und wann, weil er in seinem Dritte-Welt-Schlendrian oft genug unerträglich werde.
Wahrscheinlich erwartete Elsa, dass ich mitkäme nach München. Dass ich nicht mitgefahren bin, begreife ich nicht.
Ich donnerte nach Lindau hinab. Der Junisonntag lieferte dem Alpenpanorama, auf das ich zufuhr, das Postkartenlicht. Ein Horizont aus blauen Gebirgen. Eine Gipfelkette mit feinen weißen Borten. Der liebe Gott als Spitzenklöppler.
Noch vor neun war ich auf dem Startgelände. Zu der Besprechung waren erschienen der Ballonführer, der Unparteiische, die Autofahrer. Dass da auch einer mit dem Motorrad an der Verfolgungsfahrt teilnehmen würde, hatte sich offenbar herumgesprochen. Ich wurde nicht unfreundlich begrüßt, eher fand man es lustig. Der Unparteiische stellte sich vor, stellte Fred Dolder, den Ballonführer, vor und stellte vor Frau Dr. Silvia Schall. Frau Dr. Schall werde heute Abend um halb neun im Gasthof Stift die vier wertvollen Preise überreichen. Alle klatschten. Die sicher noch nicht vierzigjährige Frau Doktor lächelte. Das wirkte, als wolle sie sagen, sie wisse, dass sie so schön sei, wie sie nun einmal sei, dafür könne sie nichts. Eine Art Unschuld schälte ihre Lippen von den Zähnen. Und der Unparteiische freute sich, dass auch Herr Habernuss an der Verfolgungsfahrt teilnehme, der ja, wie wohl jeder hier wisse, über jedes
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