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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Landrover, den zwei Cabrios und dem roten Japaner.
    Die Wälder waren gefährlich. Man wusste nicht, wo man wieder herauskommen würde, und solange man im Wald fuhr, ging die Sichtverbindung zum Ballon wahrscheinlich verloren. Also immer um die Wälder herum. Es sei denn, eine regelrechte Landstraße führte in den Wald hinein und durch den Wald durch und die Himmelsrichtung stimmte halbwegs.
    Wenn ich nicht aufpasste, fuhr ich auf den roten Japaner vor mir drauf, der sich nach dem vor ihm fahrenden Landrover richten musste. An ein Überholen war nicht zu denken, weil wir uns auf zwar noch asphaltierten, aber doch schon sehr schmalen Sträßchen fortbewegten. Wenn ich zum Ballon hochschaute und zu den drei winzigen Figuren, die sich über die Ballonbrüstung beugten und uns vielleicht sahen, dann setzte sich bei mir die Vorstellung durch, dass ich nicht mehr dem Ballon nachfuhr, sondern der Frau, dieser Frau Dr. Schall. Noch schlimmer. Ihrem Mund fuhr ich nach. Diesem langsam sich öffnenden Mund. Wie in Zeitlupe schälten sich ihre Lippen von den Zähnen. Das wirkte, als wollten sie nur diese Zähne so langsam wie möglich entblößen. Das war es, eine Entblößung. Nichts als eine Entblößung. Zum Glück kann man fahren, ohne daran zu denken, dass man fährt. Die Routine oder der Instinkt macht schon alles richtig. Jede Nuance des Wegs, des Tempos wird richtig beantwortet. Fast zu kurz, diese blonden Haare. Eine Art Herausforderung. Dieser Mund, diese Zähne, diese Entblößung, und dann dieser kurzgeschnittene Blondschopf. Der wiederum passte zu der Lederjacke. Die trug sie so offen, dass man das violette T-Shirt, beziehungsweise die Brüste, anschauen musste. Die hellbeige Lederjacke war, wie sich später herausstellte, ein Geschenk des Schriftstellers.
    Diese Verfolgungsjagd konnte ich gewinnen. Ich war, wenn der Ballon irgendwo im Gelände landen würde, jedem Auto überlegen. Das durfte ich keinesfalls demonstrieren. Nicht einmal merken lassen durfte ich das. Vier Preise würde sie heute Abend vergeben. Ich musste der vierte sein. Ich musste der letzte sein, den sie auszeichnete.
    Der Ballon darf nicht weiter als zweihundert Kilometer Luftlinie fliegen, und er muss bis spätestens vier Uhr landen. Jeder der Verfolger muss mit seinem Fahrzeug mindestens zweihundert Meter vom gelandeten Ballon halten. Der Ballon gilt als gefangen, wenn er innerhalb von fünfzehn Minuten nach der Landung von einem Verfolger oder von mehreren erreicht wird. Wird der Ballon innerhalb der festgesetzten Zeit von keinem der Verfolger erreicht, so gewinnt der Ballonführer den ersten Preis. Jeder Verfolger, der den gelandeten Ballon erreicht, muss auf seiner Startkarte vom Unparteiischen die genaue Zeit seines Eintreffens eintragen lassen. Bleibt der Ballon mit dem Schlepptau oder mit den Halteleinen irgendwo hängen, zum Beispiel an einem Baum, gilt der Ballon als gefangen, wenn der Verfolger diesen Baum berührt.
    Der Ballon ließ Ravensburg und Weingarten rechts droben liegen. Das war auch für uns günstig. Beide Städte sind, was den Verkehr angeht, nur auf die Nord-Süd-Strecke eingerichtet. Von Ost nach West aber sind sie nichts als ein Hindernis. Auch am Sonntag.
    Die Argen hatten wir bei Neuravensburg überquert, der Ballon überquerte, uns weit voraus, die Schussen und flog drüben Richtung Nordwest. Ich sah an dem roten Japaner vorbei, dass der Schriftsteller sich von seinem Beifahrer, der offenbar eine Karte nutzte, raten ließ, wo und wie man am schnellsten über die Schussen komme.
    Allmählich ahnte ich, wie sich der Ballonführer den Jagdverlauf vorstellte. Er wusste, woher der Wind an diesem Tag wehte und mit welcher Geschwindigkeit zu rechnen war. Schussenried, Buchau, Federsee oder, wenn der Wind West-Kurs wollte, Saulgau, vielleicht sogar eine Donauniederung. Diese Landschaft war gesegnet mit weiten Mooren. Da blieb der Ballon an keinem Baum und an keiner Überlandleitung hängen.
    Sollte ich die drei Autos, die jetzt noch vor mir waren, überholen und ihnen durch selbstbewusstes Vorausfahren zeigen, wo’s langging? Nein und noch einmal nein. Bleib hinter denen, bis du merkst, dass Ballonführer Dolder an Landung denkt. Erst dann, wenn die Landung unwiderruflich ist, musst du so taktieren, dass du als Dritter oder als Vierter beim Ballon ankommst.
    Das heißt, auf einen Wettlauf auf den letzten hundert Metern darfst du es nicht ankommen lassen. Die sind alle zehn Jahre jünger als du. Nur der Schriftsteller

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