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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Trostsätze gesagt. Die waren nach der gängigen Moral nicht ehrlich. Die waren gelogen. Aber sie waren gesagt. Da sieht man, was die moralische Unterscheidung zwischen Lüge und Wahrheit wert ist. Seine Lügen waren tröstlich. Und daran lag ihm mehr, als die Anrufe selbst sagten. Wenn du jetzt auf die Mailbox tröstliche Lügen sagen könntest … Aber du bist dort glücklich. Wer glücklich ist, ruft nicht an. Klar. Wenn sie je etwas mit einander gehabt hätten, würde sie ihm jetzt täglich eine zwei bis drei Minuten lange Lüge zur Verfügung stellen.
    Für welche Meetings soll sie sich einschreiben? Sie begreift nicht, warum im Programm Morning Sessions und All Morning Sessions angeboten werden. Soll sie nehmen Trauma, memory and transference oder Between memory and destiny: repetition. Narcissistic temptations würde sie auch reizen. Wenn er sagt, wie wenig er davon verstehe, schreit sie:
    Wenn man dich einmal braucht!
    Dann schreit er zurück: Frag doch den Schriftsteller. Dann sie: Der ist in New York.
    Er merkt, dass ihm Silvis Nervenzustand gleichgültig ist.
     
    Ich sitze jede freie Minute im Konzerthaus. Nachher, im Waldhorn, wenn wir allein sind, weiß ich mir nicht anders zu helfen, ich erdrücke Elsa fast. Ich muss sie überwältigen. Ich muss ihr mehr tun, als sie will. Ich muss sie quälen, dass sie spürt, wie ich sie liebe. Ich weiß doch, dass meine Sätze sie nie erreichen. Sie ist Sätzen gegenüber abweisend. Durch Berti. Das ist geblieben. Sie traut ihrem Gehör nicht mehr. Und hat ein so feines Gehör. Kann alles, was gesungen wird, sofort aufschlüsseln in Töne und wie sie zustande kommen und wie sie sein sollen. Alles Gesungene geht sofort in sie ein, durch sie durch. Sie schwingt mit, singt mit, sagt, wie es sein soll. Da kennt ihre Verbesserungskraft keine Grenze. Jede Stimme macht sie sich ganz zu eigen und zeigt ihr den Weg zur Vervollkommnung. Aber Gesprochenes hat keine Chance bei ihr. Von mir Gesprochenes. Dafür entschuldigt sie sich tausendmal. Dass sie nicht mehr, nichts mehr glauben kann. Nichts Gesagtes. Sie ist ganz sicher, dass das nur an ihr liegt, an der alle Vertrauensfähigkeit vernichtenden Praxis ihres ersten Mannes. Der war seinerseits entschuldigt, weil er alkohol- und drogensüchtig war.
     
    Zum neunundvierzigsten Mal (heute) die Mailbox: Sie haben keine neue Nachricht. Das gehört wirklich dazu, dass er neunundvierzig Mal abhören muss, obwohl er weiß: Keine neue Nachricht. Ein 10-Sekunden-Anruf würde alles ändern: Ich denke an dich. Das wär’s. Das ist es nicht.
     
    Elsa rennt hundertmal zu ihren Sängern hin und flüstert auf sie ein und singt dann vor. Was sie vermag, der Tenor zeigt’s. Er hat eine schöne, aber keine starke Stimme. Wenn sie zu dem Tenor sagt, das Rezitativ, das die Israeliten an ihre Geschichte erinnern und ihnen Mut machen soll, habe er gesungen, als sei er selber durchdrungen von der mutmachenden Kraft der Geschichte Israels, aber die darauf folgende Arie Call forth thy powers, my soul, and dare the conflict of unequal war, diese Zeilen, die zehnmal oder zwölfmal gesungen werden, seien nur noch Musik und müssen sozusagen unvernünftig gesungen werden. Keine dieser Textwiederholungen sei auch in der Musik eine Wiederholung. Die Musik steigert und steigert sich. Wir werden Zeuge einer Selbsterregung. Zu bekämpfen sei ein überlegener Gegner. Der Feldherr Maccabaeus singt sich in die Höhe, jedes Mal noch lauter, bei jeder Zeile, call forth thy powers, my soul and dare, da muss der Zuhörer glauben, höher, intensiver geht’s nicht mehr, und dann geht es doch noch höher, noch intensiver, ja, auch noch lauter. Das letzte
dare
sei der lauteste Ton im ganzen Oratorium. Da erleben wir auch die Selbsterregung Händels. Es ist uns alles egal. Außer Musik. Außer dieser Musik!
    So redet sie, bleibt aber leise, will nicht suggestiv sein. Sie sagt es sich vor. Das Wunder – weniger ist es nicht –: Der Tenor singt, wenn sie bei ihm war, so anders, dass man glaubt, jetzt singt ein anderer Sänger. Stärker und inniger. Und kann sich steigern und steigern. Keine Wiederholung. Nur noch Steigerung. Dieses Wunder geht am nächsten Tag wieder verloren. Elsa wieder hin. Und das Wunder ist wieder da. Und dann bleibt es sogar. Und der Tenor ist selber überrascht. Und glücklich. So scheint es ein Fest zu werden.
    Ich habe, wenn Elsa auswärts war, im Bett gelegen und habe geweint. Geweint wie am Anfang bei den Präludien. Kein einziges Mal

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