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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Der Sänger des Simon ist am Montag nicht wegen einer vorübergehenden Indisposition nicht erschienen. Er kann überhaupt nicht. Seine Lebensgefährtin hat ihn mit seinem besten Freund betrogen, die beiden sind nach Griechenland geflogen, nach Kreta, sie wollen heiraten. Das hat der Simon-Sänger Elsa sagen lassen. Er selber hat sich in St. Gallen in ärztliche Behandlung begeben, an Singen ist nicht zu denken. Elsa, kurz entschlossen: Sie wird die Rolle selber singen. Mit ihrem Konzertmeister erarbeitet sie über Nacht eine Mezzosopran-Lage für den Simon. Sie kann ohnehin alle Rollen auswendig.
     
    Er informierte Silvi. Sie findet solche Mätzchen zum Kotzen. Künstlerallüren sind ihr, sagt sie, von allen Allüren am meisten zuwider. Sie ist eingeladen zu einem Kongress der Internationalen Vereinigung für Psychoanalyse, vom 24. bis 29. Mai. Auf Mallorca, Hotel Formentor. Sie ist seit Tagen unter Strom: die harmloseste Frage beantwortet sie schreiend. Morgen um 11 Uhr 20 wird sie auf Mallorca landen. Was soll sie anziehen zum Gala-Dinner? Vor dem Dinner die Opening Plenary Session. Bis 18 Uhr. Um halb acht das Dinner. Sie kann doch nicht zur Eröffnung und zum Dinner im selben Dress gehen?
     
    Elsa kämpft um das Oratorium. Sie hat das mir mögliche Niveau längst verlassen. Wenn sie zum Tenor, einem sonst in Augsburg singenden Koreaner, der den Judas Maccabaeus singt, wenn sie zu dem sagt, dieses verlängerte Es habe er gesungen, ohne daran zu denken, dass er es singe, dann merke ich, dass ich nicht mehr mitkomme. Als sie mich den Musikern vorstellte, hat sie sich dafür geniert, dass sie einen Mann hat, der kein Musiker ist. Er kann ja nichts dafür, dass er kein Musiker ist, hat sie gesagt und dann mich angeschaut und noch gesagt: Gell, du. Das ist Elsa.
    Und obwohl ich kein Musiker bin, muss ich ihr abends, wenn wir in unserem Zimmer im Waldhorn allein sind, alles erzählen, was ich beim Zuhören erlebt habe. Da hat sie einen Genauigkeitsanspruch, dem ich ehrgeizig zu genügen suche.
    Sie selber hat so viel zu erzählen, dass ich merke, ihr zuzuhören ist noch wichtiger als etwas zu sagen. Neunzehn Orchestermusiker! Sie traue sich oft nicht, einem Geiger oder einem Bläser zu sagen, was er gerade gespielt hat, habe sie nicht erreicht. Der hat die Noten richtig gespielt, hat alles gespielt, was da steht. Und trotzdem hat ihr etwas gefehlt. Einem Sänger, einer Sängerin gegenüber, ob im Chor oder Solist, habe sie dieses Problem nie. Dem, der singt, sagt sie, ist sie viel näher. Ganz von selbst. Sie spürt, was der Sänger oder die Sängerin gesungen hat, und weiß, dass das noch offener, noch atemvoller, noch seelennäher, noch zarter, noch rechthaberischer, noch unterwürfiger, noch auftrumpfender, noch seliger gesungen werden kann. Immer dem Vokal, den man gut kann, muss man den schwachen aufhängen, ruft sie. Gähnstellung ja, aber nicht das Ende vom Gähnen, sondern den Anfang! Das Schlimmste ist für sie, wenn etwas Gesungenes sie kaltlässt. Es gibt überhaupt nicht richtig oder falsch. Es gibt nur mehr oder weniger. Und sie will immer alles. Sagt sie. Mir. Aber das will sie nur, sagt sie, weil es alles gibt. In jedem Menschen. In jeder Stimme. Mit einem Instrument ist es viel schwieriger. Auf jeden Fall sind da ihre Erwartungen bescheidener. Da sei sie abhängiger von dem, was ihr angeboten wird. Den Singenden kann sie steigern, das weiß sie. Jeder Singende wartet auf sie. Sie wartet auf jeden Singenden. Sie berühren einander, und von da an fließt ein Strom von ihr zum Singenden und zurück vom Singenden zu ihr, und sie spürt, dass sie dazu da ist, diesen Strom nicht aufhören zu lassen, ihn zu stärken, dass er seiner selbst inne wird, dass er sich spürt und dadurch groß beziehungsweise schön wird. Wenn die Stimme sich selber erlebt, wächst sie über sich hinaus, sie singt sich selber. Wir Singenden sind einander unheimlich nah, sagt sie. Und jedes Mal, wenn eine Simon-Arie oder ein Simon-Rezitativ kommt, stellt sie sich zu den vier Solisten und singt. Arm, arm, ye brave! A noble cause, the cause of Heaven your zeal demands. Elsa singt anders als die Profis. Ihr höre ich direkt zu. Das versuche ich, ihr zu sagen.
     
    Silvi hat gesagt, sie werde ihn von Mallorca aus gleich anrufen. Und jetzt? Sie wird ihm erzählen: Ich habe an dich gedacht. Es gab kein Netz. Da waren andauernd Leute vom Kongress …
    Er hat, wenn er bei ihr war und sie waren weiter fort, immer Elsa angerufen und hat

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