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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Last, die unverschiebbar ist. Aber der Versuch, sie zu schieben, kann nicht aufgegeben werden. Ich spüre, wie ich auf Bewegung hoffe. Und die kommt auch gleich. Eine Bewegung mit keinem Gewicht. Eine Bewegung an und für sich. Vorher diese schwere Masse von Tönen. Jetzt die reine Leichtigkeit, als hätte es nie eine Last gegeben. Aber die Schwere bricht noch einmal herein. Wie Hiebe klingt das. Und wieder die Rettung ins Leichte. Gott sei Dank. Elsa sei Dank. Ich empfinde es unmittelbar als Elsas Leistung. Sie hat die Schwere verscheucht. Und die Töne sind jetzt so fest wie leicht. Denen kann nichts mehr passieren. O Elsa. Das passt zu dir, dass du die Schwere verscheuchst und gleich ein solches Bewegungsfest feierst. Jetzt wird ja gesungen. Da gibt es keine Trauer, keine Verzweiflung mehr, in die nicht eine Hoffnung hineingesungen wird. Und das ist ja dann nichts als Singen, was da mit ein paar Wörtern auf- und hinaufsteigt, regain his love, die des Herrn, natürlich. Und Elsa schlüpft in Nullkommanichts neben die Solisten hin und singt: I feel the Deity within. Mir geht das durch und durch. Und in der Arie erst recht. Arm, arm, ye brave! A noble cause, The cause of Heaven your zeal demands.
    Damit steckt sie als Simon den Maccabaeus an. Jetzt singt der sich hinein und hinauf und hinaus in diese Gott gewidmete Partie. Singt zigmal und jedes Mal lauter, dass sein Arm, seine Kraft ‹the conflict of unequal war› bestehen wird. Und zwar durch nichts als Gesang. Das Fortissimo des Koreaners erlebt sich selbst. Und damit hat die Musik die Freiheit erreicht. Oh Liberty, thou choicest treasure! Come, ever-smiling Liberty. Das Oratorium ist nichts mehr als ein Musizieren der Freiheit. Die soll errungen werden, erkämpft werden. Aber so, wie von ihr schon jetzt gesungen wird, hören wir, dass sie errungen werden wird. Da handelt nur noch die Musik. Ich muss zugeben, dass ich in jeder Sekunde Elsa erlebte. Sie dirigierte, ich atmete, wie sie dirigierte. Sie machte alles, was da passierte. Ihre Rechte entfaltete sich. Die Finger spreizten sich weg von einander. Ihr kleiner Finger stand am weitesten weg von den übrigen Fingern, er war gar nicht mehr der kleinste Finger, denn von ihm gingen die wichtigsten Bewegungen aus, die feinsten. Und dass die Hand, andauernd vom Gelenk an geknickt, senkrecht nach oben stand, machte, was die einzelnen Finger taten, noch auffälliger, zündender, mitreißender, vorwärtstreibender. Dagegen hatte es die Linke ruhig. Sie blieb mit dem Unterarm verbunden, bezog, was sie aussandte, aus dem Ellbogen. Sie war immer offen nach oben hin. Hob und senkte sich, um größere Einheiten zu bewegen. Aber immer wieder gab es Anlässe, beide Hände mit beiden Armen zusammenwirken zu lassen, um Chor und Orchester in jede wünschbare Höhe und Dringlichkeit und Schönheit zu heben. Die Frauenstimmen! Ach, die Frauenstimmen! Sie klangen wie eine einzige Stimme, wie die Stimme der Frau überhaupt. Und es war Elsa, die diese Stimme steigen ließ. Mit der Kraft ihrer Hände hob sie und hob sie diese Stimme in eine Höhengewalt.
    Dass der Männerchor auch mitsang, musste man sich extra klarmachen, um ihn wahrzunehmen. Er war sicher so wichtig wie der Boden, auf dem man steht und geht. Den merkt man ja auch nicht von selbst.
    Pause.
    Wir applaudieren, die Sänger ziehen hinaus, die Musiker folgen ihnen, Elsa geht zuletzt. Draußen am Buffet zeigt Moise erfreut, dass ihn diese gewaltige und zärtliche Musik durstig gemacht habe. Er bestellt gleich zwei Bier auf einmal. Sandra will nichts. Sie fühlt sich, sagt sie, ganz zu. Ich könnte sowohl etwas trinken, wie nichts trinken. Ich entschuldige mich bei Sandra und bestelle ein Bier. Moise schüttelt sich wie ein Hund, der Nässe von sich schüttelt. Boy, boy, boy, sagt er. Das ist ein Oratorium. Und ist gleich bei Laura, die sich geweigert hat, mitzukommen. Oratorien gehen mir auf den Nerv, sagt Laura, sagt Moise. Dann will er sofort verhindern, dass dieser Laura-Satz gegen Laura sprechen könnte. Er liebt Laura, und er will, dass wir sie auch lieben. Damit ist er bei seinem Thema. Laura ist eine Rassistin, sagt er. Sie habe ihn nur aus dem Kongo geholt, weil sie sich nicht trauen würde, einen weißen Mann zu schlagen. Und ohne einen anderen zu schlagen, kann sie nicht leben. Also schlägt sie ihn nicht, weil er schwarz ist, sondern weil sie einen braucht, den sie schlagen kann. Und da sei es ja gar nicht so dumm, dass sie auf den Gedanken kommt: einen

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