Muttersohn
habe ich sie diese Präludien spielen hören können, ohne zu weinen. Ich weiß nicht, warum. Wenn sie Mozart spielt, muss ich nie weinen.
Ohne Elsa ist alles nichts. Auch Silvi wäre ohne Elsa nichts. Sag dir das so lange, bis du’s kapierst. Und dann glaubst.
Sie: 23 Uhr 35: Gut Nacht, Schatz. Total erledigt. Im Zimmer kein Netz. Und auf dem Balkon ist jedes Wort zu laut. Die Grillen dürfen. Gut Nacht. Ich liebe dich.
Er wird bis Dienstag das Handy anrufen, wie man Gott angerufen hat, und das Handy wird genauso wenig antworten, wie Gott geantwortet hat.
Hotel Formentor: Ich geh’ jetzt frühstücken. Halb im Freien. So richtig malerisch. Du fehlst mir. Jetzt auf dem Balkon vor meinem Zimmer. Also, Schatz, ich bin bei dir. Wo denn sonst! 11 Uhr 33. Kleine Pause. Der Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung: Heute das Thema «Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten». Freud halt. Ich muss hinein, Schatz. Hoffe, bis heute Abend.
Null Uhr: Allmählich lern ich was. Heute zuerst: Neuropsychoanalysis. Zuletzt Dr. Kirk Austin: Memory and pleasure. Merk dir: Transformation of pain into pleasure is indispensable to the ego constitution. Morgen derselbe: Enjoy and jealousy – their origins and dynamics. Schatz, ich habe dir mehr zu erzählen, als du wissen willst.
Halb sieben: Schatz, mehr als tausend Psychoanalytiker. Jeder Referent verbeugt sich zuerst vor der Freud-Büste, die in einem Blumenstrudel seitlich auf der Bühne steht. Was ist heute das Paradigma der Psychoanalyse? Braucht sie überhaupt eins? Schatz, ich höre nur zu. Den Diskussionen. Ich erzähl’ dir alles. Sei ganz ruhig. Du bist sechzig-sechzig-sechzig! Eine kleine Auszeit. Mehr ist es nicht!
Er wird ihr beweisen oder glaubhaft vormachen, dass er sie nicht braucht. Das muss er sich doch nicht gefallen lassen von sich. Hockt neben dem Handy wie der Hund, der auf seinen Herrn wartet.
Heute hat Elsa den ersten Akt zum ersten Mal ohne Unterbrechung singen lassen. Sie erzählt das Oratorium, wie sie es am Samstag erzählen wird. Zum Chor hinauf sagte sie noch: Ab heute keine Stimmbandknötchen mehr. Zum Orchester: Und keine Nervenentzündung. Sie fing gleich mit dem Englischen an. Sie will nichts Aufgeschriebenes. Sie wirkt unbeirrbar. Auch ehrgeizlos. Vollkommen sachlich. Und während ich ihr zuhörte, sie erlebte, spürte ich, dass ich ihr abends nicht würde sagen können, wie sie auf mich wirkt. Warum habe ich keine Sprache, die ihr ihre Wirkung zeigt?
Obwohl ich mit ihren Nervenzuständen in Schlussprobenzeiten vertraut sein müsste, weiß ich von Tag zu Tag weniger, wie ich sein sollte.
Wir essen abends in unserem Zimmer. Sie will abends kein Beisammensein mit den Mitwirkenden. Man verplaudere dann, was man tagsüber geschafft hat. Sie ist erschöpft. Ich kann ihr nicht sagen, was ich am Tag erlebt habe. Durch sie. Dass ich im Quenstedt-Gymnasium nie eine so gewaltige Musik probiert habe, weiß sie ohnehin. Gestern hat sie gesagt, glücklicher als in diesen Maccabaeus-Tagen mit mir sei sie noch nicht gewesen.
Auf der Frühstücksterrasse des Formentor: Kirk Austin schaut her, zeigt in seinem Blick, dass er der ist, mit dem sie geschlafen hat, und dass sie die ist, die mit ihm geschlafen hat. Sie nimmt seinen Blick an, bestätigt seinen Blick durch ihren Blick. Und es ist ganz sicher, dass alle 400 oder 1200 Kongressteilnehmer das mitkriegen. Alle, die überhaupt in diesem Augenblick in diesem Gebäude sind, werden von diesem Blickwechsel berührt, wenn nicht sogar gerührt.
6 Uhr 20: Mit großem Aufwand fünf oder sechs Nachrichten abgehört von dir, Schatz. Ich darf dich ja nicht mehr so nennen. Kann doch mal so sein, dass man ein paar Tage nicht richtig sprechen kann mit einander. Der Kongress fasziniert mich, das gebe ich zu. Professor Emmrich, dem ich die Einladung zu verdanken habe, sorgt rührend für mich. Dass ich das Wichtigste mitkriege. Und stellt mich vielen Leuten vor. International. Der Konflikt zwischen Neurochemie und Psychoanalyse soll gelöst werden. Aufnahmen im Kernspintomographen zeigen, dass die Analyse zu Veränderungen im Gehirn führt. Ich erzähl’s dir genau.
Silvi: Ich war mit dir verbunden, wenn auch in einer anderen Welt, die mich ganz in Anspruch genommen hat. Ich versteh nicht diesen Untergangston. Gut, ich bin ein bisschen bezaubert, gebannt. Was soll’s! Wenn du Kirk Austin nicht vor dir hast, verstehst du es nicht. Wenn du ihn vor dir sehen würdest, würdest du
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