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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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verstehen, dass mir das passiert: bezaubert und gebannt. Kirk vertraut ihr. Sie habe das Gefühl, dass sie das schützen müsse. Sie könnte alle Stimmungen schildern, die es gab. Sie weiß, dass ihn das verletzen wird. Und das will sie nicht. Also kann sie nichts sagen. Beide halten es für denkbar, dass etwas Ernsthaftes zwischen ihnen möglich sei. Das Furchtbarste:
    Du würdest Kirk mögen.
    Drei viertel neun dort: Dann sitzen sie noch. Der Wein ist bestellt. Sie hat gesagt, viel verstehe sie auch nicht vom Wein, aber ein bisschen schon. Der Hauptgang ist dran.
    Vielleicht doch schon der Nachtisch. Sobald ihr im Schlafzimmer seid, schreibt er nicht mehr mit. Es ist nicht so, dass er gierig ist auf den größtmöglichen Schmerz. Es gibt jetzt nur noch den größtmöglichen Schmerz. In der Brustmitte dieser Druck. Die unausgeatmete Sehnsucht. Die geballte Täuschung. Die wild werdende Erwartung. Die Tatsachenhärte. Das Weltgewicht. Es wird Zeit zu zahlen. Du lädst ein. Das lässt Dr. Kirk Austin nicht zu. Es ist gleich elf. Gute Nacht, liebe Silvi, eine gute Nacht.
     
    Treue, das ist kein Wort, sondern ein Klebstoff. Hat Elsa einmal gesagt. Vielleicht ein Berti-Satz.
     
    Silvi hat ihn getäuscht. Ihm zuliebe. Er hat sich nur zu gerne täuschen lassen. Ich finde es gut, dass wir das gemacht haben, hat sie danach gesagt. Früher hätte sie gesagt: Dass wir es getan haben.
     
    Pfingstsamstag – Tag der Aufführung. Elsa ist aus Glas. Extraterritorial: das Konzerthaus. Ein Kontinent für sich. Elsa vor ihren Musikern. Schwarze Lackschuhe, schwarze, nicht ganz lange Hose, dass man die zinnoberroten Socken sieht, zinnoberrote Seidenbluse, darüber ein schwarzer ärmelloser Pulli. Elsa will nichts tragen, was nach Geld aussieht.
    Wir, Sandra, Moise und ich, sitzen in der siebten Reihe, 117, 118, 119. Fünfzig oder sechzig Chorsänger besetzen auf der Hinterbühne das steil ansteigende Gerüst. Dann die Musiker. Dann die Solisten. Dann Elsa. Beifall. Sie steht schon an ihrem Pult. Dreht sich zum Publikum, nimmt aber mit beiden Händen alle, die hinter ihr Platz genommen haben, mit in ihre Verbeugung vor dem Publikum. Ein ausverkauftes Konzerthaus. Auch die Empore haben sie aufmachen müssen. Elsa eröffnet den Abend. Eine Erscheinung in Rot und Schwarz. Alle Sänger mit weißer Fliege, alle Frauen mit weißen Seidenrosen auf der linken Seite, sozusagen auf dem Herzen.
    Elsa sagt: Verehrte Damen, werte Herrn, was wir singen und musizieren, ist im Jahr 1747, also vor 260 Jahren, im Covent Garden Theatre in London zum ersten Mal gesungen und musiziert worden. Wenn ich diese Musik höre oder singe, bin ich immer dort, und mir vergeht dann manchmal das Sehen durch das Hören, ich bin nur noch dort in London. Na ja.
    Mourn, ye afflicted children, the remains of captive Judah, mourn in solemn strains … Klagt, ihr gebeugten Kinder, letzte Wehr des Volkes Juda, klagt …
    Elsa weiß alles auswendig. Aber wie sie da steht und
mourn
sagt! Dann schweigt sie, und wie sie da steht und schweigt, das zieht uns alle hinein in diese Geschichte. Dann sagt sie rasch:
    Mourn, ye afflicted children, the remains of captive Judah.
    Wir singen’s englisch. Die Sprache schmiegt sich besser in die Töne. Aber Sie sehen über unseren Köpfen das Gesungene in Deutsch. Da steht eine deutsche Zeile oft lang, weil Händel sie zehnmal singen lässt. Und jedes Mal anders. Das ist die wirkliche Handlung, die Musik. Die Handlung des Textes ist einfach. Judäa ist von Feinden besetzt, der israelische Heerführer stirbt, Judas Maccabaeus wird sein Nachfolger. Der Feind ist überlegen, der Kampf ist nur zu bestehen durch die innere Kraft. Maccabaeus siegt über jede Sorte Feind. Dann, als man schon gesiegt hat, kommt noch der israelitische Gesandte aus Rom und meldet, dass die Weltmacht Rom in Zukunft die Sicherheit und Unabhängigkeit Judäas garantiert. Ich wünsch’ Ihnen ein inniges Vergnügen, verehrte Damen, werte Herrn. Und verbeugt sich, dreht sich um und dreht sich noch einmal um: Ach ja, unser Bass ist vom … vom … Schicksal so misshandelt worden, dass er jetzt nicht singen kann. Ich versuche, den Simon, seine Partie, zu singen. Und dreht sich wieder um und gibt den Einsatz. Mit der Linken den Takt, mit der Rechten den Ausdruck.
    Dass sich die Sopranistin, solange Elsa sprach, zweimal die Nase putzte, peinigte mich. Und wie sorgfältig sie das Taschentuch zweimal in ihre Noten legte!
    Wie Elsa die Ouvertüre anschiebt! Wie eine

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