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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Ewald.

8.
    Verzichten unmöglich. Nichtverzichten auch. Also, nichts. Prima.
    Das lautlose Zähneknirschen der Ohnmacht geht mir auf die Nerven.
    Ich denke nicht alles, was ich jetzt denken könnte. Ich habe alles, was ich jetzt denken könnte, heute schon gedacht. Den ganzen Tag habe ich, was ich jetzt denken könnte, schon gedacht. Durchgedacht.
    Hoffen macht unbelehrbar.
    Die Jammernummer eins: Was man hatte, weiß man, wenn man’s nicht mehr hat.
    Auf das bisschen Kopfweh warten, das bisschen Ohrendruck, die kleine Dringlichkeitsempfindung, ein Andrang von allem und eine Fülle wie nie zuvor, und Schluss? Lieber ein ICE , zwei Schienen, kühl, glatt, nachts, kauern, sich hinschieben, es darf nichts übrig bleiben, was man beerdigen kann.
    Man hockt in der Grube, wird andauernd erschossen und ist nicht tot.
    Wenn wir doch wissen, dass alles mit unserer Vernichtung endet, warum haben wir uns dann so?
    Sich selber töten. Beabsichtigen kann man es nicht. Hoffen macht unbelehrbar.
    Dieses Leben. Eine Überschätzung.
    Lesen geht nicht mehr. Ich schau durch die Buchstaben durch ins leere Weiße. Die Buchstaben halten meinen Blick nicht.

9.
    Ernest Hemingway: … their only drawback the mess they leave for relatives to clean up.

[zur Inhaltsübersicht]
III Mein Jenseits
    Für Percy
    von Augustin Feinlein
    Wer es verstehen kann, der verstehe es.
    Wer aber nicht, der lasse es ungelästert und ungetadelt.
    Dem habe ich nichts geschrieben.
    Ich habe für mich geschrieben.
    Jakob Böhme

1.
    Je älter man wird, desto mehr empfiehlt es sich, darauf zu achten, wie man auf andere wirkt. Ich bin dreiundsechzig. Südlich der Donau sagt man zum Beispiel: Der und der wird auch allmählich komisch. Die Leute in Letzlingen – so heißt das Dorf, aus dem ich komme –, die sagen nicht komisch, sondern g’spässig. Dass einer g’spässig wird, das merken alle, nur der, der allmählich g’spässig wird, merkt es nicht. Und sagen mag man’s ihm auch nicht. In Letzlingen gab es – oder gibt es vielleicht sogar noch – eine Art Kultur des Umgangs mit solchen, die im Alter allmählich komisch wurden. Nirgends sonst habe ich von dieser Kultur auch nur noch einen Hauch verspürt. Ich will diese Art Kultur schildern, dann entscheide jeder selbst, ob es in seinem Dorf, seiner Stadt, seiner Gesellschaft dergleichen gebe. Ein Bauer heißt Peterer, ist eher siebzig als achtzig, sein Bruder Konrad ist immer Knecht auf dem Hof des Bruders gewesen. Es hat sich dann herumgesprochen, dass er seit längerem nichts mehr sagt. Man kann ihn ansprechen, wie man will, er reagiert nicht. Er ist aber kein bisschen schwerhörig, das merkt man, wenn er das Vieh heimtreibt. Sobald eine Kuh stehenbleibt und nicht weiter will, geht er hin zu ihr und sagt ihr etwas ins Ohr. Wenn sie dann hinschaut zu ihm, sagt er: Jaa. Dann geht sie wieder. Auch wenn ihn ein Hund anbellt, sieht man, dass er das hört, genau hört. Also zu Menschen keinen Kontakt mehr. Wenn man den Bauer fragt, was los sei mit Konrad, bohrt der Bauer mit dem Zeigefinger seine Schläfe an. Konrad schläft auch nicht mehr in seiner Kammer, sondern auf dem Heuboden. Der Konrad ist allmählich g’spässig geworden. Das ist offenbar sein gutes Recht. Einer, der ihn am Eschbach gesehen hat, will gesehen haben, dass er mit einem Fisch gesprochen habe. Es gibt im Eschbach immer nur einzelne Fische. Forellen. Gut, hat er also mit einer Forelle gesprochen. Was er gesagt hat, weiß man nicht. Man geht ja nicht hin, wenn einer mit einer Forelle spricht, um zu hören, was da gesprochen wird. Das gehört eben auch zu der Art Kultur im Umgang mit G’spässigwerdenden.
    Eines ist sicher: Wenn Konrad stirbt, werden alle zu seiner Beerdigung gehen. Auch das gehört zu dieser Kultur. Man schätzt den G’spässigwerdenden. Man spürt, dass man ihn überschätzt. Man gibt sich darüber keine Rechenschaft. Man sagt nicht: Eigentlich ist er nur so und so, aber wir überschätzen ihn gern. Es tut gut, ihn zu überschätzen. Es ist eine helle Freude, wieder etwas, was man über ihn gehört hat, weiterzusagen und es beim Weitersagen noch schöner zu machen, als man es gehört hat. Wenn er vor seinen Kühen ins Dorf trottet, übrigens immer barfuß, im Sommer wie im Winter, immer barfuß, dann grüßt man ihn natürlich. Jeder grüßt ihn anders. Die Forschen, Übermütigen, Draufgängerischen rufen ihm etwas Forsches, Übermütiges, Draufgängerisches zu. Die Sanften etwas Sanftes. Die Schüchternen

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