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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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schauen nur hin zu ihm und verneigen sich ein bisschen. Man kann nicht sagen, Konrad reagiere überhaupt nicht, wenn das ganze Dorf sich ihm gegenüber so charakterisiert. Er hat zum Beispiel einen sehr auffälligen Gang. Einen wegwerferischen Gang, könnte man sagen. Es sieht aus, als schüttle er die Füße bei jedem Schritt. Aber das Wichtigste: er weiß nichts davon. Er weiß überhaupt nicht, dass er geht. Den Kopf trägt er hoch. Ein langer Hals kommt aus dem kragenlosen Hemd. Einen winzigen Bund hat es schon, das Hemd, aber eben keinen Kragen. Der Kopf auf dem langen Hals wackelt ein bisschen. Und das kann mit dem Schütteln oder Wegwerfen der Füße zusammenhängen. In einer Hand den Haselnuss-Stecken, den er braucht, um einer Kuh, die sich von ihm nichts sagen lassen will, anzudeuten, dass es Abend sei und dass man dabei sei, heimzugehen, in den Stall. Allerdings soll er manchmal ungeduldig werden. Er schlägt zu, heißt es, wenn eine Kuh gar nicht mitmachen will. Wie auch immer, ich will damit nur sagen, dass über Konrad viel mehr gesprochen wird als über seinen jüngeren Bruder, der den Hof schon lang seinem Sohn Willi übergeben hat. Auch über dessen Frau Irmgard wird viel weniger gesprochen als über Konrad. Im Dorf geht das Gerücht um, der Bauer Peterer sei zum Pfarrer gegangen und habe dem in drohendem Ton gesagt, der Pfarrer dürfe, falls Konrad je sterbe, bei der Ansprache am offenen Grab nichts Gutes über Konrad sagen. Darauf der Pfarrer: Ob es denn etwas Böses zu sagen gäbe? Und der Bauer: Nichts Böses, aber bloß nichts Gutes!
    Dass das Dorfgerücht Konrad jenseits von Gut und Böse haben will, könnte einen gerüchthörig machen.
    Manche glauben, Konrad kriege das alles mit und genieße es. Das ist Unsinn. Ich will mich da auch nicht hineinmischen. Ich bin schon zu lange weg aus dem Dorf. Nur, jedes Mal wenn ich wieder hinkomme, stelle ich fest, dass Konrad interessanter ist als alle anderen. Und es nimmt ihm keiner übel, dass er der Interessanteste ist. Im Gegenteil. Es gibt eine Art Wettbewerb, Konrad als solchen zu erhalten. Nicht: zu verstehen. Das überhaupt nicht. Aber zu erhalten. Als ich das letzte Mal dort war, es war in der Weihnachtszeit, sagte ein zirka Vierzigjähriger, er heißt Fritz, Konrad habe vor ein paar Tagen zu ihm gesagt, Fritz könne bei ihm übernachten, er habe auf dem Heuboden eine zweite Bettstatt. Fritz müsse allerdings eine Flasche Obstler mitbringen. Jetzt im Winter brauche er so was. Und so weiter. Dieser Fritz, der noch kein Jahr in Letzlingen lebt und jeden Tag als Pendler in die Stadt fährt und dort in einem Computergeschäft arbeitet, dieser Fritz wurde so verhört, so in die Zange genommen, der wurde behandelt, als sei er verdächtig, ein Verbrechen begangen zu haben. Und alle, die ihn verhörten, waren konraderfahrene Mitbürger. Das Ende: Fritz brach zusammen. Weinte laut auf. Gestand, alles sei erfunden und erlogen. Er habe sich bei seiner Freundin Barbi wichtigmachen wollen. Er habe angegeben. Er habe Barbi gebeten, ja nichts weiterzusagen. Habe sie leider getan. So sei alles gekommen. Es wurde ihm verziehen. Konrad wurde natürlich nicht gefragt, ob er diesen Fritz kenne, ob er den je gesehen habe, denn das war allen in jeder Sekunde klar: Was dieser Fritz über Konrad erzählte, konnte mit Konrad nichts zu tun haben.
    So ist das also, wenn in meinem Dorf Ältere anfangen, g’spässig zu werden.
    Man nennt in Letzlingen, was die Älterwerdenden auszeichnet, Mödelen. Das ist eine Verkleinerungsform von Moden und hat mit Kleider- und anderen Moden nichts zu tun. Oder es war vor ihnen da. Ich vermute, dass es vor zweitausend Jahren direkt aus dem Lateinischen in die Dörfer und so in die Mundart kam. Mödelen sind Eigenheiten, die man den Älterwerdenden zugesteht, weil man weiß, dass man sie ihnen weder verbieten noch abgewöhnen kann. Hochdeutsch heißen Mödelen Skurrilitäten. Es gibt den Mödelen gegenüber durchaus nicht nur Wohlwollen. Man nimmt die Mödelen nur hin, weil man nichts machen kann gegen sie. Aber selbst für den schlimmsten Fall enthält das Wort eine Anerkennung dessen, was hochdeutsch gleich Skurrilität oder gar Verschrobenheit heißt. Mödelen sind eine Art Extra-Menschenrecht für Älterwerdende. Wo ich hingeraten bin, geht man mit komisch Werdenden weniger wohlwollend um.
    Ich muss versuchen, mich in die hineinzuversetzen, denen ich allmählich komisch vorkomme. In meiner jetzigen Umgebung kann ich nicht darauf

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