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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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hoffen, dass man mich, falls ich anfange, komisch zu werden, mit einer so lieben Verklärungsbereitschaft behandeln würde wie den Konrad im Dorf. Wo ich jetzt lebe, wird man, wenn man anfängt, komisch zu werden, nicht mehr für voll genommen. Man kommt nicht mehr in Frage.
    Gut so. Genau genommen, ist es mir lieber, nicht mehr für voll genommen zu werden, als gehätschelt zu werden als eine komische Nummer. Wenn sie mich nicht mehr für voll nehmen, nehmen sie mich ernst. Ich weiß, dass ich Unmögliches vorhabe.
    Ich bin dreiundsechzig. Seit längerem. Ich werde nie älter sein als dreiundsechzig. Ich sage jetzt nicht, seit wie vielen Jahren ich schon dreiundsechzig bin. Ich sage nur, dass ich mit dreiundsechzig aufgehört habe zu zählen. Das war möglich. Mein Umgang mit Zahlen hat es möglich gemacht. Ich glaube nicht an Zahlen. Ich weiß, was man alles machen kann mit Zahlen, aber ich weiß auch, was man mit Zahlen nicht machen kann. Und doch macht. Ich habe aufgehört, das mitzumachen.
    Dr. Bruderhofer, der Ärztliche Direktor des Krankenhauses, dessen Chef ich bin, kann es nicht erwarten, dass ich gehe. Endlich gehe. Er ist von Haar nach Scherblingen berufen worden. Er hat angenommen, weil er schnell Chef werden wollte. In Ärztesitzungen, an denen ich nicht teilnehme, nennt er mich den Alten Knaben. Frau Dr. Breit, von der unsicher ist, ob sie mehr auf seiner oder auf meiner Seite kämpft, erzählt mir alles, was er über mich sagt und wie er es sagt. Frau Dr. Breit weiß sicher selbst nicht, ob sie mehr auf der Seite Dr. Bruderhofers oder auf meiner Seite kämpft. Dass alles ein Kampf ist, weiß sie auch. Ich habe mir sagen lassen, von Percy sagen lassen, der Alte Knabe sei gut gemeint. Ich dürfe mich in dieser Prägung, sagt Percy, gern wiedererkennen. Also mache ich das Beste aus dieser Bezeichnung. Dass ich dreiundsechzig bin und bleibe, ist nur möglich, weil ich ein Alter Knabe bin. Ich sehe so aus. Ich selber glaube, das Knabenhafte sei in mir und an mir noch deutlicher als das Alte. Also nichts gegen Dr. Bruderhofer. Das muss ich mir immer wieder sagen! Dr. Bruderhofer ist ein Nebenproblem. Und es würde den Sinn meines Kampfes seriös verfälschen, wenn ich gegen Dr. Bruderhofer recht haben wollte. Dass er seine ganze Kraft – und die ist beträchtlich – einsetzt, gegen mich recht zu haben beziehungsweise zu beweisen, dass ich im Unrecht sei, das zeigt nur, dass er jünger ist und noch glaubt, recht zu haben sei möglich. Er hat noch nicht einmal bemerkt, dass ich den Kampf, den er kämpft, nur zum Schein mitmache. Er will mich überzeugen. Von seinen Mitteln, Methoden, Therapien. Auf dem Klinik-Terrain muss ich mich wehren. Ich kann es nicht zulassen, dass er mit seiner Chemie bedenkenlos wird. Ich könnte das seiner eigenen Entwicklung überlassen. Er wird dahin kommen, wo ich jetzt bin. Glaube ich. Ist das anmaßend gedacht? Wenn ich ein Alter Knabe bin, ist er ein Alter Bub. Er hat doch total den Vierzehnjährigen im Gesicht. Das habe ich entdeckt in den Nächten, in denen ich mich gegen seine Angriffe wehren musste, gegen gedachte und gegen wirkliche. Ihm geht es um seine Karriere. Mir um mein Jenseits.
    Ich will keinen einzigen Menschen überzeugen. Nur mich selbst. Wenn mir das gelingt, wenn mir das gelänge, wäre ich der glücklichste Mensch in dieser Welt.

2.
    Ich auf 32 A, also Fensterplatz. Die zwei Sitze zum Gang hin unbesetzt. Weiter vorn, zirka 15. oder 18. Reihe, stand einer, stand schon, seit wir in der Luft waren und unsere Sitzgurte lösen durften. Ein grobkariertes Hemd. Wenig Weiß, viel Dunkelgrün. Ein geradezu grell heller Strohhut mit einem schwarzen Band. Und um das Gesicht ein silberheller Dreitagebart. Fast ein Schleier. Die Stewardessen zwangen ihn mit ihren Servicewagen immer wieder in seine Sitzreihe hinein. Er folgte und trat, sobald die Stewardessen weg waren, wieder in den Gang. Auch wenn er den Stewardessen ausweichen musste, hörte er nicht auf, mich anzuschauen. Aber in seinem Blick war nichts Privates. Kein ehemaliger Patient. Ehemalige Patienten haben alle den gleichen, um Wiedererkanntwerden bittenden Blick. Der wollte mich auch nicht kennenlernen. Der wollte mich nur anschauen.
    So angeschaut zu werden, hält kein Mensch aus. Ich hatte Grund genug, wegzuschauen. Wir überflogen die Alpen, über Eis und Schnee, so nah, so anziehend und ewig.
    Immer wieder zurück mit dem Blick, zu dem, der mich immer noch anschaute, wie er mich vorher

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