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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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angeschaut hatte. Sein Blick ist reglos. Ausdruckslos. Leblos. So schauen einen Statuen an. Ein Vorgeschmack von Rom.
    Ich hätte nicht mehr hinschauen dürfen zu dem. Die Viertausender waren wirklich anziehend genug. Der aber auch. Gern hätte ich den Kopf geschüttelt oder gelacht, oder den Kopf geschüttelt und gelacht. Dr. Bruderhofer! So groß wie der. Und immer grobkarierte Hemden! Und auch noch den Kordanzug, den honigfarbenen! Ja, Herr Dr. Bruderhofer … Und jetzt kam mir der Blick, der ganze Gesichtsausdruck nicht mehr so reglos, leblos, statuenhaft vor. Das war doch der freundliche Bruderhofer’sche Bubenblick. Und von diesem auf Harmlosigkeit getrimmten Bruderhoferverschnitt lass’ ich mich abbringen von den in voller Sonne zu mir heraufschauenden Viertausendern. Dann wollen wir doch einmal sehen, wie weit diese Dr. Bruderhofer-Imitation zu gehen wagt. Beim Aussteigen muss es sich ja zeigen.
    Jeder holt rücksichtslos sein zu großes Gepäck herunter, jeder drängt nach vorne. Der Bruderhofer-Darsteller, das hatte ich noch gesehen, hatte einen Rucksack heruntergeholt, einen Rucksack, aus dem ein Geigenkasten ragte. Ich drängte nicht. Ich ließ alle anderen vorbei. Ganz schnell noch durchgespielt, dass der blind sei. Nur einer, der dich nicht sieht, kann dich so unbarmherzig anstarren.
    Blind oder nicht blind, Dr. Bruderhofer-Bub oder Statuen-Darsteller, ich verließ das Flugzeug als Letzter. Ein Kordanzug, und sei er noch so honigfarben, und ein noch so grell heller Strohhut, das macht noch keinen Dr. Bruderhofer. Wozu flog ich denn nach Rom! Doch nicht, um das heimische Quältheater weiterzuspielen.
    Als ich dann am Transportband auf meinen Koffer wartete, sah ich den freundlichen Riesen nicht! Ich war froh. Aber auch enttäuscht. Und weil gar nichts passiert war, leistete ich mir die Floskel: Dann halt das nächste Mal. Und wusste nicht, wie ich das meinte. Sobald ich im Bus war, bemerkte ich, dass ich meinen Hut im Flugzeug vergessen hatte. Und gab sofort dem Dr. Bruderhofer-Darsteller die Schuld. Ich besitze nur zwei Hüte. Jetzt war also der Sommerhut weg. Sofort marschierte die Gedächtnisparade in mir auf und führte vor, wo ich überall gewesen war mit diesem Hut, was ich, ihn auf dem Kopf, erlebt hatte. Er war weich, biegsam, ein helles Braunbeige, eine fast abenteuerliche Krempe. Wenn ich mich mit ihm im Spiegel sah, kam mir mein Gesicht immer zwanzigjährig vor. Zwar brav, aber bereit, unbrav zu sein. Und dieser Hut war weg. Und schuld: der Herschauer mit dem Strohhut und dem Geigenkasten. Ich vergesse schon mal einen Regenschirm oder eine belanglose Tasche, aber doch nie einen der beiden Hüte. Der schwarze im Winter war nur möglich, weil ich im Sommer den braunbeigen hatte. Es war September, der braunbeige war noch dran. Ich fühlte mich debalanciert. Der war unwiederbringlich weg. Und ich war in Rom! Und hatte mich doch, wo immer ich ausstieg, gefragt: Ist der Hut dabei! Das war eingeübt. Das gehörte zu mir. Ich hatte immer Angst, diesen Hut einmal irgendwo zu vergessen. Das war jetzt passiert. Der vorbereitete Schrecken beherrschte mich so, dass ich auf der Fahrt stadteinwärts von Rom nichts sah. Weil ich darauf angewiesen bin, mich zu verstehen, musste ich mir sagen, dass ich diesen harmlosen Mitreisenden brauchte, weil ich einen Grund brauchte, der mich den Hut vergessen ließ. Ich hätte es nicht ertragen, diesen Hut einfach vergessen zu haben. Das wäre sozusagen unverzeihlich gewesen. Aber dieser Reisende hatte mich doch gerade beim Verlassen des Flugzeugs sehr beschäftigt. Wie würde es mir gelingen, an ihm vorbeizukommen? Nicht dass ich Angst gehabt hätte vor ihm. Aber wenn er irgendwo auf dem Weg hinaus oder am Gepäckband stehengeblieben wäre, dass ich nah an ihm hätte vorbeigehen müssen, das wäre eine Peinlichkeit gewesen.
    Ich wohne immer im Hotel Locarno. Es wird nie hell in diesem Hotel. Außer im Frühstücksraum im Souterrain. Da kommt’s einem dann grell hell vor. Aber sonst herrscht eine zuverlässige Lichtlosigkeit. Man kann nicht lesen in diesem Hotel. In keinem Zimmer. Das ist befriedigend. Du darfst dich mit dir selber beschäftigen. Die Schwelgerei mit den Stiltrivialitäten des späten 19. Jahrhunderts passt gut dazu. Ich muss mich jedes Mal zwingen, das Hotel überhaupt zu verlassen. Das Hotel will mir einreden, dass ich eigentlich bedürfnislos sei, meine Reiseziele in Rom nur vorgeschützt, mir selber vorgemacht aus irgendwelchen schwer

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