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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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als er hier anfing. Mir musste er auffallen, weil er, was er in der Kirche tat, mit einem fast schon peinlichen Ernst tat. Ich sitze ja immer wieder ohne Anlass im Kirchendämmer und lasse Zeit vergehen. Wenn der hinkende Breitwieser in der leeren Kirche von links, vom Glockenstuhl, nach rechts in die Sakristei geht, dreht er sich jedes Mal zum Hochaltar, macht eine tiefe Kniebeuge und bekreuzigt sich. Und wenn er von der Sakristei zurück zum Glockenstuhl hinkt, wieder die Kniebeuge und das Kreuzzeichen. Und das immer in der ausführlichsten Art, die man, glaube ich, die orthodoxe nennt. Wir sind fast Freunde geworden. Er hat mir einen Schlüsselbund gegeben, ich kann jeder Zeit in die Kirche, ich kann sogar in die Sakristei und dort alles, was verschlossen ist, öffnen. Ich habe ihn nicht belogen, als ich sagte, dass ich manchmal den Wunsch hätte, bei den Gefäßen und Gewändern zu sein, die die Gläubigen nur von fern zu sehen kriegten. Seit ich ihn wissen ließ, dass der letzte Scherblinger Abt, der Reichsprälat Eusebius Feinlein, ein Vorfahr von mir war, darf ich in der Kirche tun, was ich will.
    Es gibt eine Sehnsucht, die nichts von sich weiß. Erst wenn man sich ihr überlässt, erfährt man, wohin sie einen haben will.
    Es war an Maria Heimsuchung. Ich wollte wieder einmal die Dämmerung in der Kirche verbringen, Breitwieser wollte die Kirche gerade verlassen. Wir gehen nie nur grüßend an einander vorbei. Diesmal war er es, der anfing. Im Dezember wird er siebzig. Schluss mit Mesner. Ich weiß nicht, warum mir dazu nichts anderes einfiel als der Satz, dass ich Lust hätte, sein Nachfolger zu werden. Er lachte und sagte, er werde das dem Pfarrgemeinderat melden. So redeten wir draußen vor dem Portal. Er ging dann, drehte sich aber noch einmal um und sagte viel ernster: Die Vorbildung, Herr Professor! Haben Sie die?
    Weil ich nicht gleich antwortete, sagte er: Ich, zuerst Metall-Lehrling, Abendabitur, Pflegerschule hier, durchgefallen, von 130 sind 19 durchgefallen, ich einer von ihnen, danach ging’s abwärts. Geflohen. Auch vor mir selber. Nachts in Mannheim irgendwo geschnappt von den Agenten der Legion. Mannheim, Karlsruhe, Straßburg, Marseille, Saigon. Dschungelkrieg. Wenn es hinter dir raschelt, schießt du, schon bevor du dich umgedreht hast. Dann siehst du: Es war nur eine Frau. Oder ein Kind. Die Kugel im Bein ist die Rettung. Zurück. Da wartet nur der Alkohol. Bis ich hier in der Kirche hock’ und Pfarrer Weimer kommt. Ich sofort: Alkoholiker! Heute trocken. Das ist AA -Jargon. Der Pfarrer weiß Bescheid; das heißt: seit einem Jahr. Und nimmt mich mit. Bringt mir die Mesnerei bei. Von selber kann man das nicht. Nichts für ungut, Herr Professor. Sie sind ja noch nicht im Gelände gewesen, als die mich hier haben durchfallen lassen.
    Und ging. Das war eine Lektion. Weil ich so dahingesagt hatte, dass ich sein Nachfolger werden möchte. Das hat er zuerst für einen Witz gehalten, dann für eine Anmaßung.
    Breitwieser ging heim, ich in die Kirche. Ich sitze immer so, dass ich hinaufschauen kann auf Norberts gemaltes Leben. Auf den sich sträubenden Knaben.
    Ad omne opus bonum paratus. Zu jedem guten Werk bereit. Wenn ich Breitwieser den Prämonstratenser-Spruch gesagt hätte, hätte ich ihn erst recht verstimmt. Wenn ich sage, dass ich gern Mesner der Stiftskirche wäre, ist das, so lustig es klingen mag, ernst gemeint.
    Ich konnte ihm und kann ihm immer noch nicht sagen, wie ich das gemeint habe. Mesner der Stiftskirche. Alle Bewegungen so peinlich ernst exekutieren wie Breitwieser. Eine alle Nachfrage abweisende Konzentration auf das, was ich in der Kirche zu verrichten habe. Dr. Bruderhofer darf nicht den Übermut haben zu fragen: Warum macht er das? Kein Tag länger Chefarzt. Bitte, Herr Dr. Bruderhofer, ergreifen Sie das Ruder, segeln Sie das Schiff Scherblingen, wo Sie’s hinhaben wollen. Aber mich lassen Sie in Ruhe. Keine Nachfrage. Kein Kommentar. Jedem, der mich mein Mesneramt verrichten sieht, muss jede Frage im Hals steckenbleiben.
    Wie könnte ich Herrn Breitwieser dazu bringen, mich dem Pfarrgemeinderat zu empfehlen? Herr Professor Dr. Dr. Augustin Feinlein will in seinem Ruhestand Stiftskirchenmesner sein. Basta.
    Solange ich in der Kirche sitze und Zeuge werde, wie die Dämmerung das Licht schluckt, wie die Stille alles andere als lautlos ist, erlebe ich, wie mich alles, was mich hier umgibt, trägt. Wenn die Luft das Element ist, das Vögel und Flugzeuge trägt, wenn

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