Muttersohn
Bestimmtheit aller Corsogesten bedarf keiner Inhalte. Die Selbstverständlichkeit der Paläste, der Kirchen, der Geschäfte! Und immer wieder, förmlich zum Atemholen zwingend, die Ausbuchtung der Plätze. Und blieb dann doch hängen, wurde hineingesogen in einen Hemdenladen. Nichts als camicie. Und mir war, als hätte ich schon auf dem Weg zur Basilika oder bald danach dieses Hemdengeschäft gesehen. Eine Hemdenkette also. Und gleich tief hinein in den Bau. Nichts als Hemden und Hemden. Und kein einziges nördlich der Alpen denkbar. Und kaufte zwei. Das zweite nur als Wiedergutmachung für das erste. Das erste war nämlich eins mit Karo. Aber nicht so grobschlächtig wie das des Strohhut-Starrers im Flugzeug. Ein weißes Hemd, über das ein deutliches, aber doch zartes Gitter von einander schneidenden Linien gelegt war, eben Karo. Die waagrechten Linien waren dunkel, ohne schwarz zu sein, und die senkrechten waren beige, ohne braun zu sein. Das war ein Fund. Das andere dunkelblau und hell gestreift, mit einem Kragen, den ich, wie ich im Hotelzimmer sofort sah, nördlich der Alpen ohnehin nicht tragen konnte, so trumpfte der auf. Aber das weiße mit dem Karogitter in Dunkel und Hellbeige würde ich tragen. Und immer an den Hut denken. Der hätte mich zusammen mit diesem Hemd zu einer sich selbst genügenden und sich selbst genießenden Erscheinung machen können. Das hatte mir der honigfarbene Strohhut-Kordmann vermasselt. Darauf bestand ich. Und warum hatte ich mir zwei Hemden gekauft, aber keinen Hut? Hemden hatte ich mehr, als ich noch tragen konnte. Aber mein einziger, abenteuerlich schöner Sommerhut war weg! Man muss es aushalten, sich zum Rätsel zu werden.
Aus der Stadt zurückzufinden in die Via della Penna war jedes Mal aufregend. Hinaus kam man von selbst. Zurück erst, wenn man oft genug an der Einmündung vorbeigelaufen war. Auch da: Ich durfte einfach nicht suchen. Ich bin zum Finden verurteilt. Kaum zurück in der ewigen Dämmerung meines Zimmers, des Zimmers 310, wurde ich förmlich überfallen von dem Satz: Rom ist mein Jenseits. Zum Glück musste ich, wenn Sätze mich auf diese Weise überfielen, nicht versuchen, mir deren Richtigkeit oder Wahrheit zu beweisen. Rom ist mein Jenseits. Ganz klar war, dass der Satz keinesfalls hätte heißen können: Mein Jenseits ist Rom. Zum Glück gibt es dieses Gefühl, dass ein Satz stimmt. Unnötig dazuzusagen: für mich. In mir. Rom ist mein Jenseits. Basta. Das Jenseits ist eine andauernde Leistung. Wenn man aus irgendeinem Grund erschöpft ist, stellt es sich nicht ein. Dann ist man reglos, wehrlos, leblos, also nicht so lebendig, dass das Sterben zur Anregung werden könnte. Man wird da weder vernichtet noch nicht vernichtet. Man verdämmert und hechelt vielleicht. Aus der Tiefe rufen wir … Das Jenseits aber ist ein Schrei. Wenn du wieder Luft hast. Die gewöhnliche Enge hat sich aufgelöst. Anstatt befriedigt oder weise oder dankbar zu ersticken, tust du wieder alles, um Luft zu kriegen. Und kriegst Luft. So viel Luft, wie du brauchst für den Jenseits-Schrei.
Am zweiten Tag ging ich sorglos, angstlos die Ripetta hinunter, aber dann doch auf dem Trottoir, auf dem der Starrer mit dem Drahtdackel nicht stehen würde. Weil er an diesem Tag überhaupt nicht da war, durfte ich das Gefühl haben, den sei ich losgeworden. Dann ein kurzes Verharren in der Basilika bei der schönen Römerin, die samt Kind, mit gnädigster Anteilnahme auf die hinaufbetenden Landleute hinabschaut. Es fiel mir wieder schwer, die vom Staub und Dreck der Wege dunklen Fußsohlen des Mannes schmutzig oder dreckig zu nennen, obwohl der Maler sie genau so gemalt hat: dreckig. Aber diesmal blieb ich bei den Händen des Pilgerpaars. Die sind von der Arbeit so mitgenommen, dass beide, Mann und Frau, gerade noch die Fingerspitzen zu einander bringen. Da denkt man natürlich, wie perfekt bessergestellte Beter ihre Hände zu falten vermögen. Aber ich wollte diesmal ja nach vorne, zu dem das linke Seitenschiff beschließenden Altar. Kein Altarbild, eine Skulptur. Wieder Maria, und auf ihrem linken Knie das Jesuskind. Madonna del Parto. Maria von der Geburt. Eine Art Muschel schirmt die Sitzende, und über allem die Schrift VIRGO TUA GLORIA PARTUS . Jungfrau, dein Ruhm ist die Geburt. Oder auch nur: das Kind. Auf jeden Fall: VIRGO . Der Maler der Pilgermadonna hat eine Römerin seiner Zeit gemalt, der Bildhauer dieser Madonna hat an eine Römerin der Antike gedacht. Und an der linken Seitenwand
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