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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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beiden zeigen, dass sie von weiter her kommen und dass es Leute aus einem Dorf sind. Solche Fußsohlen hat man nur, wenn man aus einem Dorf kommt. Und Caravaggio hat auf diesem Bild nichts so genau und dadurch schön gemalt wie die Fußsohlen, die der kniende Mann sehen lässt. Die Madonna ist natürlich auch für ihre Schönheit berühmt, weil sie eine junge Römerin ist. Keine Spur Madonnen-Routine. Das Kind kein Hauch Jesuskind. Aber beide schauen so teilnahmsvoll auf das Pilgerpaar hinab, wie nur Maria und das Jesuskind auf ein Paar hinabschauen können, das seine Anbetung mit aller Kraft vollbringt. Mehr kann man sich zu nichts anstrengen, als dieses Paar sich zur Anbetung anstrengt. Und das ist der Gegensatz, den unsereiner erlebt. Wie die Madonna und ihr Kind in wunderbarer, aber anstrengungsloser Teilnahme hinabschauen auf die zwei Pilger, denen alles in der Welt zur Anstrengung oder gar zur Überanstrengung wird. Auch die Anbetung. Aber eben deshalb kommen sie doch. Und nichts sagt das deutlicher als die erdigen Fußsohlen des Mannes, denen Schuhe so fremd sind wie den Füßen Konrads in Letzlingen. Und was für ein Barfußunterschied zwischen den feinen Füßen, die gerade noch unter dem feinen Gewand der feinen Madonna herausschauen, und den Füßen und vor allem doch Fußsohlen des Pilgermannes. Die unterm dunkel hinabfließenden Gewand gerade noch hervorschauenden Füße – ein Fuß auf dem Boden, der andere steil, nur mit den Zehen den Boden erreichend –, die zeigen: Diesen feinen Füßen ist Last fremd, die tanzen unter allen Umständen. Aber oben, das Gesicht, das trotz seiner Schönheit nur dazu da ist, samt Kind hinunterzuschauen zu den Anbetenden. Dem Kind hat der Maler in die kleine Hand die Geste einer bedeutenden Teilnahme hineingemalt. Das alles zusammenzubringen, war immer die vom Bild gestellte Aufgabe, wenn ich die Basilika verließ, also so langsam wie möglich die basilikabreite Freitreppe hinunterging. Armes Paar, tolle Dame. Stimmt nicht. Arm ist das Paar nicht. Die strahlen eine Gebetskraft aus, die sie der Dame Madonna ebenbürtig macht. Woher die ihren Jesus hat, wagt man nicht zu denken. Allein die Schönheit zählt. Das Jenseits muss schön sein. Sonst kannst du es gleich vergessen. Nur wenn es so schön erscheint wie in der Basilika, füllt es dich aus bis zur Fraglosigkeit. Aber dass es so schön ist, setzt voraus, dass es so stimmt. Caravaggio soll, bevor er das Bild gemalt hat, als Pilger in Loreto gewesen sein.
    Ich zog – noch auf der Freitreppe – meine Schuhe und meine Socken aus, steckte die Socken in die Hosentasche und ließ die Schuhe an den Schuhbendeln baumeln. Dass Norddeutschland sich mit Schnürsenkeln gegen Schuhbendel durchgesetzt hat, ist schwer zu begreifen.
    Erst auf der Piazza Navona, unter dem Lärm der Lautsprechermusik, zog ich die Schuhe wieder an. Durch den Passetto delle Cinque Lune und die Via Agonale war ich hinausgekommen auf den Platz. Wenn ich meinen Hut noch gehabt hätte, wäre ich barfuß weitergegangen. Das einmalige Braunbeige mit dem nicht ganz tiefbraunen, aber glänzenden Band. Und die rundum auf und ab wogende Krempe. Dieser Hut und barfuß! Die Schuhe baumelnd am Bendel! Das wär’s gewesen!
    Ganz unernst schaute ich, sobald ich auf dem Corso war, ob es ein Schaufenster mit Hüten gebe. Ich kann eigentlich nicht nach einem Hut suchen. Ich muss ihn, ohne zu suchen, finden. Suchen liegt mir sowieso nicht. Finden schon. Ich wollte mich auf dem Corso auch nicht durch eine eigensinnige Hutsuche von den Menschen ablenken lassen, die aus Palästen und Kirchen und Geschäften kamen und in Paläste, Kirchen und Geschäfte hineingingen. Die äußerste Bestimmtheit aller Bewegungen. Und Gesichter. Die wissen alle, wo sie hinwollen und wo sie herkommen. Der ganze Corso ist eine hochverdichtete Bestimmtheitssphäre. Das teilte sich auch mir mit. Ich ging andauernd quer durch Bestimmtheitsströme durch. Und war der, der dazu bestimmt war, die Bestimmtheit von allen zu erleben. Augenblicksweise wollte sich mir statt Bestimmtheit Bedeutung aufdrängen. Die erlebten alle ihre Bedeutung. Das sah man jedem und jeder an. Aber dann war mir Bedeutung doch zu inhaltlich. Zu bürgerlich auch. Obwohl ich es genoss, alles, was um mich herum geschah, zu verstehen. Aber ich wollte das vor Sinn strotzende Corsodurcheinander nicht zum Theater werden lassen. Das Theater ist süchtig danach, verstanden zu werden. Die kleinste Geste sagt, was sie bedeutet. Die

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