Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
heiliggesprochenen Märtyrers zu erwerben. Den ganzen Leib, das heißt, das ganze Gebein. Das wurde damals vom 24. August, dem Bartholomäustag, bis zum 28. August, dem Tag des heiligen Augustin, stürmisch gefeiert. Vier Äbte trugen den Leib Saturnins, ein Bischof den Kopf, in einer triumphalen Prozession durch die prangende Natur. Und hundert Jahre später die Translationsfeier noch einmal. Und diesmal war Eusebius Feinlein, der noch Franz geheißen hat, dabei. Im September musste er in die Prüfung, also wallfahrtete er eilig von Dillingen nach Weißenau und wurde Zeuge der Jubiläumsprozession. Und hörte, wie ein Bischof allen die Urkunde vorlas, die vor hundert Jahren von Rom mit dem Gebein des Saturnin nach Weißenau gekommen war, als Echtheitsnachweis. Und Franz merkte sich jedes Wort und schrieb’s in seinen Worten ins Tagebuch: Weil es Zweifel gegeben hat, ob in dem Sarg unterm Laurentius-Altar in Rom wirklich Saturnin ruhe, wurde im Beisein von Edlen und Gemeinen der hölzerne Sarg, der in einem Marmorschrein aufbewahrt worden war, geöffnet. Und weltliche und geistliche Würdenträger überprüften mit eigenen Händen, dass in dem Sarg alle Gebeine waren, die zum Leib eines Menschen gehören.
    Eusebius konnte sogar einen Mönch überreden, ihn Saturnins heiliges Gebein berühren zu lassen. Die Prüfung in Dillingen wurde mit Auszeichnung bestanden. Franz konnte Eusebius werden. Das Kapitel, in dem er das erzählt, überschreibt er: Gedencket zuruck an die vorigen Zeiten. Er schrieb jetzt ja in deutscher Sprache und ließ, was er verfasste, in der Scherblinger Druckerei Unold drucken.
    Aber das Motto blieb doch im schlichten Latein: De forti dulcedo. Vom Starken kommt Süßes.
    Ach Eusebius.
    Nirgends sind mehr Reliquien heftiger verehrt worden als zwischen Donau und Bodensee. Da lebt ein Menschenschlag, der für seine tüchtig-praktische Art immer noch berühmt ist. Und was für Reliquien! In einem Extraglas: Blut des heiligen Saturnin! Und Fäden aus dem Gewand Marias und Haare von ihr und Teile des Stabs, mit dem Mose Wasser aus dem Felsen schlug, und Partikel des Golgatha-Kreuzes und der Schwamm, mit dem Christus am Kreuz Essig gereicht wurde und Milch der allerseligsten Jungfrau Maria und ein Stück von Christi Nabelschnur und eben auch, als das Allerheiligste, das Blut des Gekreuzigten und – man soll das nicht verschweigen – die heilige Vorhaut Jesu Christi. Heiligtümer hat man diese Objekte genannt. Und es waren Hunderte, wahrscheinlich Tausende zwischen Donau und Bodensee. Die Äbte schickten gelehrte Mönche nach Rom, dass sie aus der dort ausliegenden Reliquienliste Märtyrerreste auswählten und bezahlten und dann die Schätze heimbrachten, zum Ruhm und Segen des eigenen Klosters. Von den Stäben Aarons und Moses bis zum Stab des heiligen Magnus, der herumgereicht wurde, um Flurschaden zu verhüten. Mein Vorfahr will die Reliquien gegen ihre Erklärer verteidigen. Da hatte man in einem Kristall angeblich Tropfen des heiligen, des allerheiligsten Blutes. Andererseits war vorgeschrieben, in jeder Messe eine Wiederholung des letzten Abendmahls zu erleben, Brot und Wein werden verwandelt in Leib und Blut Christi.
    Das historische Blut Christi und das dogmatisch unumstößliche sakramentale Blut Christi, das ist für den Vorfahr kein Gegensatz, kein Streitpunkt.
    Er erzählt die Legenden, mit denen die mehr oder weniger Gläubigen sich den Weg bebildern, auf dem das heilige Blut gerade in diese Kirche, in diese Sakristei, in dieses Kreuz, in dieses Reliquiar gekommen sei. Er lässt die Legenden aller mit einander konkurrierenden Klöster gleichermaßen gelten. Am ausführlichsten erzählt er, wie Scherblingen zu seinen heiligen Blutstropfen gekommen sein soll. Hier war es kein römischer Soldat Longinus, der Tropfen des Blutes, das er gerade mit seiner Lanze vergossen hatte, gleich auffing und bis zum eigenen Märtyrertod bewahrte und weitergab. So kam’s über Mantua und feudale Hilfspersonen nach Weingarten. Scherblingen berief sich auch nicht wie Weißenau auf Maria Magdalena, die von Christi Blut getränkte Erde auflas und damit übers Meer nach Marseille floh und dies edle Gut, wieder mit feudaler Hilfe, von Merowingern bis zu Habsburgern, retten und ins Oberland liefern konnte. Scherblingen kann sich auf Johannes, den Lieblingsjünger persönlich, berufen, der, als er den toten Christus auf Marias Schoß liegen und bluten sah, plötzlich wusste, was für ein kostbares Nass da

Weitere Kostenlose Bücher