Muttersohn
niederlief. Und er hatte von einem römischen Offizier, mit dem er zwei Tage zuvor ein gelehrtes Gespräch über das jüdische Altertum geführt hatte, ein Tränenkrüglein geschenkt bekommen. Das sind fingergroße Glaskrüglein in Vasenform. Feinere römische und orientalische Damen machten damit ihre Tränen verschenkbar. In solch ein Krüglein rettete er Christi Blut. Dann geht’s durch die Jahrhunderte. Hier sind es schließlich Kreuzritter, die das edle Gut in der Felskammer bei Ephesus entdecken und es glücklich heimbringen. Nach Scherblingen. Und da hat man’s jetzt. Und es hat in der Produktion des Reliquiars jede Zeit ihren Stilwillen verwirklicht. Wichtig ist, dass die Blutstropfen unangerührt blieben. Der Abt Benedikt Mangold, der aus Oberdischingen stammt, hat den Bergkristall im Jahr 1529 mit seinem Abtssiegel verschlossen. Und was auch immer dann an Gold und Edelstein um den Bergkristall herumverfeinert wurde, das Reliquiar blieb vertrauenswürdig verschlossen. Bis auf den heutigen Tag, schreibt Eusebius Feinlein in seiner Gemeinnützigen Schrift. Dann erzählt er eine Parallel-Legende: Die Auffindung und Rettung und Weitergabe der Vorhaut Christi. Heißt Praeputium oder das Präpuz. Es ist die längste Zeit in einer Laterankapelle auf der Rückseite eines goldenen Kreuzes in einer silbernen Theca aufbewahrt worden. Und Karl der Große hat dieses Kreuz samt Präpuz dem Papst als Prozessionskreuz geschenkt. So kamen Kreuz und Präpuz in eine Laterankapelle. Und die heilige Brigitta von Schweden, gestorben im Jahr 1373, und heiliggesprochen schon 1391, schrieb in ihren Revelationen – und das kann nichts anderes heißen als Offenbarungen –: Und Maria sprach: Als mein Sohn beschnitten wurde, bewahrte ich diese Membrane überall auf, wo ich hinging. Wie hätte ich sie der Erde übergeben können, sie, die von mir ohne Sünde gezeugt worden war.
Sie habe sie dem heiligen Johannes übergeben, dazu auch noch Blut aus den Wunden des Gekreuzigten.
Und schließt:
O Rom, o Rom! Wenn du wüsstest, würdest du dich freuen, ja, wenn du weinen könntest, würdest du ohne Unterlass weinen, weil du einen mir so teuren Schatz hast und ihn nicht verehrst.
Der Schatz wurde gehoben, wurde verehrt und sogar geraubt, 1527: Sacco di Roma. Ein französischer Soldat war der Räuber. Von da an kursierte die Reliquie in Europa. Eusebius zitiert, wie die Erklärer mit dieser Ubiquität umgingen. Gott habe dieses heilige Ding auf wunderbare Weise vervielfältigt, wie er in der Heiligen Schrift Wein und Brot und Fische vermehrt habe. Die Wirkungen dieser Reliquie imponierten dem Vorfahr mehr als die Erklärungen. Wo sie die Reliquie beschreiben, wird immer ihre unaussprechlich große Kraft erwähnt. In Nordfrankreich wird, sobald die Reliquie aus der Sakristei getragen wird, die Kirche von einer Wolke verhüllt, in dieser Wolke blitzt und flammt es, alle Gläubigen weinen und schluchzen, später erzählt der Geistliche, er sei die ganze Zeit wie bewusstlos gewesen. Und die Österreicherin Agnes Blannbekin spürte die Reliquie immer am Fest der Beschneidung, also am 1. Januar, auf ihrer Zunge. Und sie schluckte jedes Mal, was sie auf der Zunge hat. Dabei war sie innerlich voller Licht und sah sich selbst ganz und gar. Und konnte vom Erlebnis süßer Gerüche schwärmen. Aus solchen Nachrichten gewann der Vorfahr eine Art Kenntnis über die Glaubensleistungen vergangener Jahrhunderte. Und das ist der Satz, in den seine Nachforschungen münden: Es ist nicht wichtig, dass Reliquien echt sind.
In einer von Jesuiten herausgegebenen Zeitschrift des Jahres 1899 habe ich die Frage gelesen: Se una reliquia fosse falsa? Eine rhetorische Frage. Kann eine Reliquie falsch sein? Nein. Sie wird ja erst durch den Glauben geheiligt beziehungsweise echt. Unsere europäischen Vorfahren haben auch gewusst, was man wissen kann. Aber sie haben geglaubt, was sie glauben wollten. Wie schrieb der Vorfahr? Glauben heißt Berge besteigen, die es nicht gibt. Musik gäbe es ja auch nicht, wenn man sie nicht machte. Glauben, was nicht ist, dass es sei. Ohne das Geglaubte, schreibt er, wäre die Welt immer noch wüst und leer. Sobald er einen Glaubenssatz ausprobiere, fühle er sich widerlegt. Sein Fehler: Wörter zu suchen für ein Glaubensgefühl. Solange er nicht von seinem Glauben rede, fühle er sich erfüllt. Unwillkürlich. Die Wörter seien inzwischen in Schulen gegangen, in denen das Glaubenkönnen abgeschafft worden ist. Aber Glauben und
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