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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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der Sarg der heiligen Monika, der Mutter Augustins. Da setzte ich mich in eine Bank und versuchte, nichts zu denken. Aber die naseweisen Wörter ließen sich nicht abhalten, mir zu sagen, dass ich doch bei einer Art Satz gelandet war: Du glaubst, was nicht ist. Dann ist es. Schrecklich, diese Unabweisbarkeit der Wörter. Das war noch zu üben, die Gegenwart von Erwünschtem ohne Wörter. Wär ich doch ein Kirchenmaler, gerade beschäftigt mit einem Deckengemälde, gerade dabei, eine wild entschlossene Engelschar zu malen. Wild entschlossen, diese in den Himmel reichende Kirchendecke zu tragen. Sie stehen mit ihren Füßen in der Luft, allenfalls auf unsoliden Wolken. Und können doch den gewaltigen Himmel tragen. Im Himmel sitzen die in den Himmel gehörenden Figuren. Die scheinen alles andere als leicht zu sein. Aber meine Engel stemmen die Himmelslast. Die Engel gehören weder in den Himmel noch auf die Erde. Sie gehören in die Luft. Sie wissen gar nicht, was sie stemmen und tragen, aber sie stellen sich etwas vor. Das sieht man ihren sehr entschlossenen Gesichtern an. Sie würden den Himmel genau so stemmen und tragen, auch wenn er leer wäre. Ich werde, soweit es geht, den Engeln meine Züge geben. Das muss möglich sein. Mir wird doch immer wieder Knabenhaftigkeit nachgesagt. Die Engel werden mir gleichsehen. Deshalb bin ich Kirchenmaler geworden. Allerdings male ich (bis jetzt) nur Engel. Den Himmel selbst, beziehungsweise, was darin ist, Gott und so weiter, überlasse ich meinen Gesellen. Meine Gesellen haben bei mir gelernt. Sie sind wirkliche Künstler. Große Künstler. Größere Künstler, als ich es bin. Ich kann ihnen den Himmel und alles, was darin ist, schon überlassen. Gott und so weiter. Ich bin gespannt.
    Dass ich den Engeln mein Gesicht geben darf, habe ich gelernt in Aichhalden, dort in St. Michael. Jan Verkade hat es vorgemacht. Als Pater Willibrord von Beuron nach Aichhalden geschickt, hat er die Heiligen an den Kirchenwänden viel zu weit hinaufgemalt. Aus feinster Scheu nämlich. Buben und Mädchen aus Aichhalden hat er in die Höhe gemalt. Als St. Vitus, Johannes, Stephan, Laurentius, Magdalena, Helena, Cunegund und so weiter. Und sich selber als den Bernard von Clairvaux. Alle Gesichter sind Aichhalden-Gesichter. Aber in dieser Höhe und Malart sind es genauso Heiligengesichter.
    Anbetbar.
    Noch wichtiger als durch sein Dorfgesichter-in-die-Höhe-Malen ist mir der Malermönch durch zwei Zeichnungen geworden, in denen er Eva und Maria jedes Mal in EIN Bild bringt. Das hat außer ihm in zweitausend Jahren, glaube ich, keiner vermocht. Wäre ich Milliardär, würde ich diese Zeichnungen kaufen und sie Eva Maria schenken.
    Ich verabschiedete mich von der klassischen Maria und von der anderen auch, dann ging ich die basilikabreite Freitreppe wieder so langsam wie möglich hinab. Aber meine Schuhe zog ich diesmal nicht aus. Und kaufte kein Hemd. Ich summte Maria durch ein’ Dornwald ging. Das konnte ich summen, ohne an einen Text zu denken. Nicht gleich, aber dann doch. Dann war es nur noch ein Gesumm. Gesumm, du bist mein Jenseits.
    Als ich wieder auf Platz 32 A saß und zurückflog und mich schon bereit machte, den eisigen Viertausendern ins Ewigkeitsgesicht zu schauen, kam die Stewardess und brachte mir meinen Hut. Ja, den hatten sie geborgen, und der Passagier 32 A wurde identifiziert, und es wurde festgestellt, dass der am dritten Tag zurückfliegen würde. Es lebe der Service! Da ist Ihr Hut, Herr Professor! Ich bedankte mich, legte den Hut neben mich auf den wieder frei bleibenden Sitz, dann wandte ich mich dem sogenannten ewigen Eis zu. Aber die rechte Hand ließ ich beim Hut. Da er sehr weich ist, war die Hand angenehm beschäftigt. Sie versprach dem Hut, dass er nie mehr vergessen werde, egal wer sich vor uns aufstellen würde. Es war ein Kraftgefühl. Eine Gefühlsdeutlichkeit. Das sollte ich spüren. Und mir sagen: So ein Wie-auch-immer-Starrer mit dem grobschlächtigsten Karo der Welt kann dich, wenn du von Rom kommst, anstarren, solang er will, du bist unerreichbar. Und ich spürte, wie die rechte Hand und der Hut das mitmachten. Der Hut fühlte sich jetzt sogar an, als wolle er gleich aufgesetzt werden. Dazu war ich nur allzu bereit.

3.
    Rudolf Breitwieser und ich sind gleich lang in Scherblingen. Dreißig Jahre. Er ist der Mesner der Stiftskirche, ich Chefarzt des PLK . Breitwieser ist aus Brauchhausen, also keine zehn Kilometer von Letzlingen. Allerdings war er schon vierzig,

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