Muttersohn
das Wasser das Element ist, in dem die Fische leben, dann ist diese Kirche mein Element. Als 1803 der Staat allen Klöstern das Ende befahl, mussten auch die Scherblinger Mönchspriester Weltpriester werden. Aber mein Vorfahr, jetzt kein Reichsprälat mehr im Fürstenrang, durfte in den Konventsgebäuden bleiben. Zwei Jahre nach der Aufhebung war die Gelübde-Erneuerung fällig. Von den neununddreißig Chorherren fehlten nur drei. Sechsunddreißig kamen noch einmal hierher, um sich als Prämonstratenser zu bekennen. Und waren einen Tag später wieder in den Gemeinden, denen sie jetzt als Priester dienten. Der Vorfahr aber fing an zu schreiben. Jetzt hatte er Zeit. Kein Prior mehr, der ihm die Pflichtenliste vorhielt. Gemeinnützige Schriften nannte er, was er schrieb. Und sein Thema: die Reliquienverehrung. Es gebe keine Weltgegend, schrieb er, die reicher sei an Reliquienschätzen als das Land zwischen Donau und Bodensee. Und schilderte, wie sein Vorgänger, der Abt Benedikt Mangold, die Heiligblutreliquie vor dem Zugriff der wütenden Bauern hatte retten können. Das war am 17. Mai 1525. Die Bauern zerschlugen, was ihnen in die Hände fiel. Sie hatten einen Zorn auszutoben, der in Jahrhunderten gewachsen war. Dass sie dem Kloster untertan waren, leibeigen untertan. Dass das Kloster von ihnen verlangen konnte, was es wollte. Jeden Todesfall mussten sie mit Hab und Gut bezahlen. Den besten Rock, die beste Kuh, das beste Getreide. Der Abt hat, wie jeder weltliche Herr, jedes Dorf mit allem Drum und Dran verkaufen können an jeden, der kauflustig war. Die Äbte anderer Klöster flohen in die Städte. Benedikt Mangold rettete sich mit der Heiligblutreliquie durch eine Geheimtür in eine Art Wandschrank. Zwei Tage und zwei Nächte, teilt er mit, habe er dadrin gebangt und gebetet. Und war doch selber ein Bauernbub aus der Gegend, ein Untertan, sprich Leibeigener, der jedem neuen Herrn, sei er Abt oder Fürst, hat huldigen müssen, also schwören, dass er nicht aus dem Dorf weglaufe, um in der Stadt ein Mensch zu werden. Und wer nicht so ein elender Untertan hat bleiben wollen, ist ins Kloster eingetreten, hat Latein gelernt und hat in Dillingen studiert und ist dann Chorherr gewesen oder Prior oder gar Abt, Reichsprälat, also einer den Fürsten gleich. Mit eigenem Wappen und Hermelin um den Hals. Und hat allein gegessen, der Abt und Reichsprälat. Und konnte regieren. Der Abt Benedikt schrieb ins Klostertagebuch, er habe sich am 17. Mai 1525 nicht nach Biberach oder Ravensburg gerettet, weil er die Heiligblutreliquie nicht gefährden durfte. Dass er die Reliquie vor den aufrührerischen Bauern gerettet habe, das sei ein Dienst, den er den Bauern habe erweisen müssen. Die hätten in ihrem berechtigten Zorn über ihre elende Lage auch das Heiligste nicht schonen können. Dass ihm das gelungen sei, nennt er die wichtigste Handlung in seinem Leben.
Gut, mein Vorfahr, zuerst Franz Feinlein, habe sich, als er zweiunddreißig Jahre alt war und von den sieben Wahlmännern gewählt wurde, den Compromissarii, die die neununddreißig Chorherrn bestimmten, da habe er sich, schreibt er, mit Tränen gesträubt. Auf den Boden habe er sich geworfen, vor seine Mitbrüder hin. Sie haben auf ihrer Wahl bestanden, und so ist er Abt, Reichsprälat, Kirchenfürst gewesen bis zum Jahr 1803, als der Staat die Klöster auflöste. Um sich an ihnen zu bereichern und aufgeklärte Redensarten zu dreschen.
Mein Vorfahr Eusebius hatte sein erstes Erlebnis mit einer Reliquie als Student. An der Jesuiten-Universität in Dillingen, wo die meisten Chorherren und Äbte der Klöster des ganzen Landes sich ausbildeten, stand er kurz vor der Abschlussprüfung. Und da er als Letzlinger Bauernsohn, als siebtes Kind der Familie, nicht mit Selbstbewusstsein ausgestattet worden war, hatte er Angst, die Prüfung nicht zu bestehen. Das wäre das böse Ende seiner erwünschten Laufbahn gewesen. Und es stand gerade bevor die Hundertjahrfeier des Empfangs des Leibes des heiligen Saturnin. Von Rom über Luzern und Meersburg ins Prämonstratenser-Kloster Weißenau. Dort seit hundert Jahren eine Sensation. Unzählige Wunder jeder Art bewirkte der heilige Saturnin bei denen, die ihn besuchten. Saturnin wurde jahrzehntelang ein Modename. Auch ein jüngerer Bruder von Franz Feinlein war schon Saturnin getauft worden. Nicht nur ein kostbares Teilchen, sei es ein Haar, ein Schuh oder ein Tropfen Blut, nein, dem Weißenauer Kloster war es gelungen, den ganzen Leib eines
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