Muttertier @N Rabenmutter
Jugendliche liebten Hanna und ich die Hindenburgstraße. Stundenlang spazierten wir die Fußgängerzone rauf und runter, gingen in jedes Geschäft und sahen sofort, wenn in einem Schaufenster ein neues T-Shirt hing. Mit dem Studium trennten sich jedoch unsere Wege. Hanna studierte in Münster, ich in Heilbronn. Wenn wir nicht zufällig gleichzeitig unsere Eltern besuchten, sahen wir uns nicht. Briefe wurden immer seltener, Telefonieren war in den 90ern noch so teuer, dass Studenten sich keine langen Ferngespräche leisten konnten, und an Internet war noch gar nicht zu denken. Nach dem Studium blieb ich in Süddeutschland. Wir verloren langsam den Bezug zueinander. Keine wusste mehr etwas vom Leben der anderen, und allmählich ließ das gegenseitige Interesse nach. Es war ein schleichender Prozess, der seinen finalen Höhepunkt am Tag meiner Hochzeit fand. Irgendwann im letzten Studienjahr hatte ich das Gefühl, dass ich Hanna nicht mehr wichtig war. Sie meldete sich kaum noch und wenn, dann erzählte sie nur von ihrem aufregenden Leben in Münster, in dem ich nicht stattfand. Sie berichtete von Partys, auf denen ich nicht war, und von Menschen, die ich nicht kannte. Ich war eifersüchtig auf ihre neuen Freunde und wütend. Wütend darüber, dass ich keine Rolle mehr in ihrem Leben spielte. Aber wenn das so war, dann musste ich es eben akzeptieren. Wie so oft im Leben standen auch hier unausgesprochene Gefühle im Raum, die uns entzweiten. Ich zog mich zurück und sie ließ mich gehen. Als ich mit meinem zukünftigen Mann Alex die Einladungsliste für unsere Hochzeit zusammenstellte, war er es, der Hanna ins Spiel brachte. »Wieso soll ich sie einladen? Sie interessiert sich doch überhaupt nicht mehr für mich!«
»Aber sie war deine beste Freundin.«
»Ja, war.«
»Willst du sie nicht bei deiner Hochzeit dabei haben?«
»Nö. Doch. Ich weiß nicht, was ich will.«
»Also ich würde mich sehr freuen, sie zu sehen. Dann lade ich sie eben ein.«
Als sie anrief, um sich für die Einladung zu bedanken und zuzusagen, entluden sich alle aufgestauten Gefühle. Ich knallte ihr an den Kopf, dass ich sie gar nicht einladen wollte, weil sie sich eh seit einem ganzen Jahr nicht mehr gemeldet hatte – abgesehen von einer Postkarte, auf der stand: ›Ich sitze hier in einem Café und weiß nicht, was ich dir schreiben soll.‹ Ich war so wütend darüber, dass sie mich nicht einmal ansatzweise zu vermissen schien, dass ich sie kaum zu Wort kommen ließ, bis sie anfing zu weinen. Oh, da waren ja doch noch Gefühle für mich. Das war es doch, was ich wissen wollte. Sofort sagte ich ihr, dass auch sie mir immer noch sehr wichtig war und dass ich mich sehr freuen würde, sie bei meiner Hochzeit endlich wieder zu sehen. Schließlich weinten wir beide. Ich freute mich auf Hanna und hatte das Gefühl, dass nun alles wieder gut werden würde. Bis zur Hochzeit hörte ich nichts mehr von ihr. Ich wusste nicht, wann sie wie anreisen und wie lange sie bleiben wollte. Vorsorglich reservierte ich ein Zimmer. Die Trauung fand ohne sie statt. Auch der Sektempfang. Ebenso das Kaffeetrinken am Nachmittag. Erst, als wir uns gerade das Abendessen schmecken lassen wollten, schneite sie in den Saal, in einem schwarzen Abendkleid, freudestrahlend und lachend wie eh und je. Ich riss mich zusammen und begrüßte sie so freundlich, wie es eben ging. Ich wies auf das Buffet und begleitete sie zu ihrem Platz. Hanna jedoch zog es vor, an einen anderen Tisch umzuziehen. Sie nahm sich kurzerhand ihren Stuhl und setzte sich zu einer alten Schulfreundin. Was für eine bodenlose Unverschämtheit! Taucht hier einfach auf, wann es ihr passt und stört dann noch das Abendessen. Mein Abendessen an meiner Hochzeit! Ich spürte, wie sich ein stechender Schmerz in meinem Kopf ausbreitete. Meine Schläfen pulsierten. Das bemerkte wohl auch mein frisch angetrauter Ehemann. Als Hanna uns fröhlich zuwinkte, während ich sie mit meinem Blick erdolchen wollte, sagte er:
»Hanna, iss doch etwas.«
»Ach, ich hab gar keinen Hunger.« Jetzt reichte es mir!
»Dann setz dich auf deinen Platz und lass die anderen essen!« Pah! Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich so mit ihr gesprochen. Aber es funktionierte. Hanna setzte sich folgsam auf den ihr zugewiesenen Platz. Der Abend nahm seinen Lauf. Ich saß an diesem Abend mehrmals an Hannas Tisch, sprach aber nie direkt mit ihr. Wir tanzten miteinander, aber auch das ohne Worte. Es war eine seltsame Situation. Die
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