Mutti ist die Bestie: Die heimliche Diktatur vieler Mütter (German Edition)
dass meine Tochter so offen lesbisch lebt und ihre Freundin auch auf der Straße küsst.«
Alles bestens also? Ist Cornelia eine der Persönlichkeiten, die ihren Kindern ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen, frei von Vorurteilen? Doch genauer hingeschaut, ist das nur ein Teil der Wahrheit. Denn unter der progressiven Oberfläche liegt eine tiefe Trauer, die sie selbst im Kreis ihrer engsten Freunde nicht zu formulieren wagt. Erst in der Therapie erlaubt sie sich, ihre wahren Empfindungen über die Liebe ihrer Tochter zuzulassen und aussprechen: »Mir wird erst jetzt klar, dass die Entscheidung meiner einzigen Tochter gravierende Folgen für mich hat. Ich werde niemals Enkelkinder haben und niemals Oma sein. Das tut sehr weh.«
Wie echt kann eine Haltung sein und wie frei eine Gesellschaft, wenn eine gebildete Frau wie Cornelia es nicht wagt, ihre ureigensten Gefühle wahrzunehmen, geschweige denn darüber zu sprechen?
Es war ein langer Weg, bis es für homosexuelle Menschen in unserer Gesellschaft möglich war, offen zu ihrer sexuellen Orientierung zu stehen. Heute kann sich sogar ein Politiker öffentlich dazu bekennen – und das ist gut so. In vielen Gegenden der Welt ist dieser Weg noch nicht zu Ende. Nun ist es aber bei uns offenbar mittlerweile so, dass neue Tabus entstanden sind: Wenn ein Mensch nämlich zu sagen wagt: »Ich habe ein Problem damit, dass meine Tochter lesbisch ist!«, wird er im Handumdrehen als homophob abgestempelt – dabei will er nur ausdrücken, was er ehrlich fühlt. Und ohne die Möglichkeit, seine Gefühle zu artikulieren, ist ein reinigendes, klärendes Gespräch doch gar nicht erst möglich. Viel hat sich verändert, aber wir sind noch immer weit davon entfernt, dass man öffentlich zu seinen Gefühlen stehen darf, ohne abgestempelt zu werden. So oder so.
Es ist schwer, gegen Gruppendruck und die Macht des Mainstreams anzudiskutieren oder gar sich dagegenzustemmen. So wie Mutti in der Familie für Harmonie sorgt – und sei es mit der Keule –, so grenzt die Öffentlichkeit Abweichler und deren Positionen gnadenlos aus. So wie Muttis es im Familienkreis mit ihren spitzen Bemerkungen meisterhaft verstehen, alle anderen mundtot zu machen, so desavouiert der Mainstream die unbequemen Abweichler, indem er sie als »Spießer«, »Reaktionäre«, »Ewiggestrige« verunglimpft.
Und die Moralkeule gibt es in verschiedenen Größen. Der Autor Thilo Sarrazin hat sie in augenöffnender Weise nach dem Erscheinen seines Buches »Deutschland schafft sich ab« zu spüren bekommen. Er wurde quer durch die Parteien und Redaktionen als »Rassist«, »Eugeniker«, »Rechtspopulist«, »Stammeskrieger«, »Antisemit« und vieles mehr bezeichnet. Dabei kann man über seine Thesen und Meinungen herrlich streiten und sich mit Erkenntnisgewinn darüber auseinandersetzen. Nur müsste man dafür auch die eigenen Positionen auf den Prüfstand stellen. Und dagegen wissen sich Muttis und Mutti-Systeme vehement zu wehren.
Weder ist Cornelia homophob, noch trifft auf Sarrazin irgendeiner der genannten Begriffe zu, jedenfalls ist in seinem Buch oder in seinen Interviews nichts davon zu finden. Gegen Gruppendruck und Mainstream anzukämpfen ist schwer, ob öffentlich oder im Freundes- oder Familienkreis. Nicht jeder bleibt dabei stehen. Man muss sehr viel Stärke aufbringen, um den Gegenwind auszuhalten, und dank Mutti fehlt es vielen genau daran. Unter dem Mantel der totalen Freiheit, in der wir uns heute wähnen, versteckt sich die perfide Bevormundung durch die Diktatur des Mainstreams. Die wahren Bedürfnisse der Menschen finden keine Berücksichtigung, die persönlichen Meinungen werden unterdrückt, die wahren Gefühle erhalten keine Beachtung.
Unter dem Dach der Kirche
Ideologie und Abhängigkeit herrschen seit zwei Jahrtausenden in der katholischen Kirche – im Männersystem par excellence. Das ist das Paradoxe: Die Gottesdiener wähnen sich frei von jeglicher Mutti-Macht, und doch bleiben die Mechanismen dieselben. Denn das Problem der Abhängigkeit reist ebenso mit in die Klausur wie die frühkindliche Prägung: Auch spätere Kirchendiener werden oftmals von Muttis erzogen, und ich vermute, dass viele von ihnen im Mutti-Syndrom stecken geblieben sind.
Dazu hat Eugen Drewermann, selber lange Jahre Priester in der katholischen Kirche, in seiner großen Studie »Kleriker« Wichtiges gesagt. Aber auch für den Laien sind die Parallelen frappierend. Die Kirche selber nennt sich »Mutter Kirche«,
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