Mutti ist die Bestie: Die heimliche Diktatur vieler Mütter (German Edition)
läuft es gut. Aber mein Mann! Er ist viel zu sehr von mir abhängig. Er braucht Hilfe.«
Hartmut verzieht keine Miene und sieht zu Boden.
Mir ist sofort klar, dass ich die beiden unbedingt in Einzelgesprächen näher kennenlernen muss. Hartmut wird niemals zu Wort kommen, wenn seine Frau dabei ist, und Silvia scheint mir selbst ein Problem zu haben. Denn auf Dauer ist es ausgesprochen anstrengend, wie ein Hütehund die Schäfchen beisammenzuhalten und aufzupassen, dass kein Familienmitglied aus der Reihe tanzt. Manche Mutti leidet selbst unter dem System, das sie aufgebaut hat und in dem doch auch sie gefangen ist. Nun ist es eine Sache, insgeheim zu spüren, dass die Dinge im Argen liegen. Eine andere ist es, auszubrechen und Veränderungen in Angriff zu nehmen. Aber zunächst zu Hartmut, der von seiner Frau quasi eingeliefert wurde.
Die Arbeit mit ihm allein gestaltet sich vielversprechend. Der direkten Kontrolle seiner Frau entzogen, zeigt er sich als zielstrebiger, kluger Zeitgenosse. Doch zu Hause ist er der typische Pantoffelheld. Wir besprechen seine Situation in mehreren Sitzungen. Es wird klar, dass Hartmut von einer dominanten Mutter erzogen wurde und eine Partnerin gesucht und gefunden hat, mit der er das ihm bekannte Beziehungsmuster wiederholen kann. Dass sich seine Ehefrau wie ehedem Mutti Sorgen um ihn macht, gefällt ihm. Er ist es eben gewohnt, dass sich jemand um ihn kümmert, doch mittlerweile ahnt er, dass er in einer Sackgasse gelandet ist. Hartmut hat sich die Gängelung lange genug gefallen lassen. Er will versuchen, in Zukunft mehr Eigenständigkeit zu wagen.
Den nächsten Termin nimmt Silvia wahr, obwohl sie mir mehrmals am Telefon erklärt, dass sie gar nicht verstehe, warum das denn überhaupt nötig sei. Nun sitzt sie vor mir und erzählt mir, wie gut sie ihre Familie im Griff habe, wie erfolgreich die Kinder in der Schule seien und welch große Freude ihr die Ehe mache. Doch dann bricht es plötzlich aus ihr heraus: »Ich habe große Angst davor, dass mein Mann davonläuft. Wissen Sie, wie das ist, wenn man Angst hat?«
Ich nicke.
»Ich habe bereits mehrere Ärzte konsultiert, um die Angst loszuwerden – vergeblich. Das geht schon ein paar Jahre so, mal ist es besser, mal schlimmer.«
Silvia ist überfordert. Einerseits meint sie, Hartmut ganz eng führen zu müssen, damit er nicht abtrünnig wird. Andererseits versucht sie loszulassen, um ihnen beiden mehr Freiheit zu ermöglichen und das zu tun, was er sich seit Neuestem zu wünschen scheint. In dieser Zwickmühle kriecht Angst in ihr hoch. Der Schritt in eine echte Partnerschaft, die nicht auf Macht und Manipulation, sondern auf Vertrauen und differenzierter Diskussion basiert, will ihr einfach nicht gelingen. Viel zu tief ist sie in ihr Verhaltensmuster verstrickt.
Je selbstständiger und stärker ihr Mann durch seinen therapeutischen Prozess wird, desto unwirscher und abweisender reagiert Silvia. Sie zeigt sich stur und blockiert, sowohl ihm als auch mir gegenüber. Schon bald stellt sich die entscheidende Machtfrage.
Als eine mehrtägige Dienstreise nach München ansteht, verzichtet Hartmut zum ersten Mal darauf, vorab die Erlaubnis seiner Frau einzuholen. Er beschließt einfach zu fahren und teilt ihr das mit. Auch ruft er nicht wie üblich mehrmals täglich bei ihr an, sondern nur noch abends. Silvia ist in heller Panik, jetzt wird ganz klar, dass der Kontrollverlust droht. Ihre erste Reaktion: Sie sagt alle weiteren Termine bei mir ab. Auch bestimmt sie, dass ihr Mann ebenfalls die Therapie abbrechen muss. Auf meine Frage, weshalb er die doch so erfolgreiche Arbeit beenden solle, antwortet sie nur: »Weil ich es so will!« Es ist kaum zu glauben, aber dieser beruflich so erfolgreiche Mann reagiert folgsam wie früher im Kinderzimmer bei Mutti. Er gibt nach. Am Telefon lässt sich Hartmut verleugnen, und ich habe ihn nie wiedergesehen.
Wenn eine Mutti Anstalten macht, aufzubrechen, um außerhalb der Familienburg neue Erfahrungen zu sammeln, merkt sie rasch, dass da draußen ein anderer Wind weht. Plötzlich soll sie zulassen, dass sie und ihr Verhalten infrage gestellt werden. Doch wenn die äußere Hülle fällt, kommt darunter meist wenig zum Vorschein. Muttis haben oftmals gar keine oder nur sehr begrenzte Wünsche, was die eigene Zukunft und die persönliche Entwicklung betrifft. Die eigenen Empfindungen sind verschüttet unter der dicken Decke von antrainierten Positionen und Allgemeinplätzen. Es würde eine
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