Mutti ist die Bestie: Die heimliche Diktatur vieler Mütter (German Edition)
Individuen mit jeweils ganz eigenen Einschätzungen sind. In gesunden Familien akzeptiert und unterstützt die Mutter diese Entwicklung.
Babys und Kleinkinder erkennen über ihre Hauptbezugsperson, also meistens die Mutter, was Gefühle sind, dass sie in Ordnung sind und wie man sie äußert, sodass man auch verstanden wird. Sie lernen, sie zuzulassen und ernst zu nehmen. Die bewusste oder auch unbewusste Kommunikation läuft dabei über Gesten und Äußerungen des Unmuts oder der Zustimmung. Wenn das Kind älter wird, kann es mit der Mutter auch direkt über Gefühle kommunizieren.
Das Kind schimpft: »Der Lehrer hat mich heute total ungerecht behandelt. Ich musste eine Strafarbeit machen, obwohl ich an der Rauferei gar nicht beteiligt war. Ich bin total sauer!« Oder die Mutter sagt: »Lukas, mir geht es heute nicht gut. Kannst du rüber zu Stefan gehen und mit ihm spielen? Dann lege ich mich kurz hin und bin heute Abend bestimmt wieder fit.« Wenn sowohl Mutter als auch Kind ihre wahren Gefühle zeigen und gleichzeitig die Gefühle des jeweils anderen akzeptieren können, entsteht ein offener und wertschätzender Umgang, der die Tür für viele anregende Gespräche öffnet. Dann ist auch klar, dass die Gefühle des einen für den anderen nicht das Maß aller Dinge sind; was den einen ärgert, kann der andere wunderbar finden. Das ist in Ordnung. Mit diesem Wissen können aus Kindern eigenständige Erwachsene werden.
Aber Muttis wissen oft selbst nicht so genau, was sie empfinden. Sie äußern das Gefühl, von dem sie glauben, dass es von ihnen erwartet wird – und vom Kind verlangen sie dasselbe. Das Kind soll also den Erwartungen entsprechen, um jeden Preis. Weil die einzelnen Familienmitglieder nicht offen miteinander umgehen, können die Kinder ihre Persönlichkeit nicht entfalten. Stattdessen finden sie sich eingezwängt in ein Korsett wieder. Sie können nicht einmal zeigen, wenn sie selbst traurig oder wütend sind, aus Angst vor den Folgen. Was unser Schulsystem zumindest vorgibt zu fordern, steht für Muttis Liebling gar nicht erst auf dem familiären Lehrplan: eigenständiges, kritisches Denken.
Du machst mich krank
Der Weg in die Knechtschaft beginnt für das Kind auf der emotionalen Ebene, wo es wie alle Menschen am verwundbarsten ist. »Du willst mir doch eine Freude machen und wirst mich nicht enttäuschen, oder?« Ja, natürlich will das Kind seiner Mutti eine Freude machen. »Ich habe mir so viel Mühe gegeben, einen Nachhilfelehrer für dich zu finden, und außerdem kostet das so viel, da wirst du doch jetzt auch fleißig lernen, nicht wahr?« Selbstverständlich will das Kind das große Opfer der Mutter nicht zunichtemachen, indem es den Unterricht am späten Nachmittag schwänzt und Fußball spielt.
Diese emotionale Erpressung der Kinder durch die Mütter bedeutet eine Umkehrung der Fürsorgeverhältnisse. Nicht mehr die Mutter ist für das Wohlergehen des Kindes verantwortlich, sondern das Kind für das Wohlergehen der Mutter.
Muttis bester Freund im Kampf um die kindlichen Gefühle ist das schlechte Gewissen. Oft heißt es dann: »Du machst mich traurig, jetzt muss Mutti weinen.«
Natürlich gibt es auch gesunde Schuld- und Schamgefühle, die das Zusammenleben wesentlich erleichtern und zumindest die meisten Menschen von Übergriffen auf ihre Mitmenschen abhalten können. Wer sich einmal tief geschämt hat, beim Klauen von einer Tafel Schokolade erwischt worden zu sein, wird in Zukunft die Finger von fremdem Eigentum lassen. Wenn die große Schwester dem kleinen Bruder eine Handvoll Haare ausreißt und der laut zu brüllen anfängt, merkt sie, dass ihm das wirklich wehtut. Sie fühlt sich schuldig und hält sich in Zukunft mit körperlichen Attacken zurück. So werden die ethischen Anforderungen des Zusammenlebens in der Psyche des Einzelnen als unbewusste und lebenslang wirksame Beziehungsmuster verankert.
Aus zwei Gründen sind die Chancen eines Kindes, aus dem Mutti-System auszubrechen, minimal. Zum einen merkt das Kind selbst von diesen inneren Prozessen nichts und lebt in dem Glauben, einen eigenen Willen zu haben und frei entscheiden zu können. Dabei sind seine Ansichten in den meisten Fällen nur die der Mutter. Denn hier greift wieder die 90-zu-10-Regel: 90 Prozent unseres Handelns und unserer Gedanken finden unbewusst statt. Und das Unbewusste wird grundlegend durch die frühkindlichen Beziehungsmuster geprägt. Sie werden als unbewusste Handlungsvorgaben fest im kindlichen
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