Mutti ist die Bestie: Die heimliche Diktatur vieler Mütter (German Edition)
Weise ein. Dank ihres einseitigen Einfühlungsvermögens wissen sie genau, welche Hebel sie wann betätigen müssen, um ihr Kind gefügig zu halten. Destruktiv angewandte Empathie kann eine furchtbare Waffe sein. Niemand foltert erfolgreicher als der, der sich in sein Opfer einzufühlen versteht und weiß, was ihm den größten Schmerz bereitet.
Je besser sich Muttis in das Innenleben ihres Kindes hineinversetzen können und dessen Gefühle verstehen, umso effektiver können sie die besten Stell- oder auch Daumenschrauben finden. Sie nehmen die Puppe weg; sie beschlagnahmen das Handy, das gerade jetzt in den Schulferien für den Klatsch mit der besten Freundin so wichtig wäre. So großzügig Muttis mit Belohnungen umgehen können, so gut wissen sie auch, was ihrem kleinen Schatz so richtig wehtut, wenn er ihnen mal Kummer bereitet.
Die schlimmste Strafe für Kinder aber ist das Schweigen. Kein Kind hält tagelanges Schweigen aus. Einzelhaft ist die stärkste Strafe in jedem Gefängnis, eine schweigende Mutter setzt das Kind einer Isolationsfolter aus.
Dieser Effekt wird noch schlimmer dadurch, dass Kinder die Fehler bei sich selbst suchen und sich für die Behandlung, die ihnen widerfährt, verantwortlich fühlen. Damit drohen haarsträubende Langzeitfolgen – wirksam und sicher im Unbewussten abgespeichert.
Skandinavische Nächte
Marion hat eine Sechs in Mathe aus der Schule mitgebracht. Zugegeben, sie ist nicht sonderlich fleißig in diesem Fach, weil sie es einfach nicht mag. Aber bei dieser Mathearbeit ist wirklich alles schiefgegangen, und selbst der Lehrer hat sie getröstet.
Das eigentliche Pech für Marion ist aber, dass ihre Mutter in Mathe immer sehr gut war und es schlichtweg für das wichtigste aller Fächer hält. Mama sieht eine gute Mathenote nicht nur als Lohn fleißigen Lernens an, sondern auch als präsentierbaren Intelligenzausweis ihres Kindes. Und natürlich als Charakterprobe, denn hier könnte Marion zeigen, dass sie genug Selbstdisziplin hat, um durch harte Arbeit ihrer Mama den Gefallen zu tun, zu den Klassenbesten in Mathe zu gehören. Dass Marion die Beste in Deutsch und Musik ist, hat Mama nie interessiert, denn sie liest nicht viel und hat auch kein Instrument gelernt.
»Der Mensch fängt bei der Mathematik an«, sagt Mama immer, »denn mit Gedichteschreiben und Liedersingen ist noch keiner reich geworden. Wo wäre denn Bill Gates geblieben, wenn er nicht eine Million und eine Million zusammenzählen könnte? Meine Tochter jedenfalls hat das Zeug zu guten Mathenoten. Und die braucht sie auch, damit sie später nicht auf der Straße landet.«
Also folgt für Marion die Strafe auf dem Fuße: Die gemeinsame Urlaubsreise wird abgesagt, und Marion muss in den Ferien, die ein paar Tage später beginnen, jeden Tag Mathe lernen. Sie hat Hausarrest.
Marion kommt am nächsten Morgen ganz verweint in die Schule. Schließlich erfährt ihr Mathelehrer, was los ist. Er findet zwar auch, dass Marion sich in Mathematik mehr anstrengen müsste, aber die Strafe scheint ihm dann doch maßlos überzogen zu sein. Also ruft er Marions Mutter an, um sie umzustimmen, aber da gerät er an die Falsche. Muttis Ehrgeiz kennt kein Pardon. »Gerade Sie als Lehrer sollten doch wissen, wie wichtig es ist, in diesem Fach gut zu sein. Und Marion hat das Zeug dazu, sie ist nur zu faul, und das werde ich ihr schon austreiben. Da muss ich konsequent bleiben.«
Zu Ferienbeginn tritt Marion jeden Morgen nach einem einsamen Frühstück ihre Einzelhaft mit den Mathebüchern an. Ihre Mutter ignoriert sie den ganzen Tag über konsequent. Aber nach ein paar Tagen kommt Mama auf einmal am späten Vormittag herein, bringt ihr eine Tasse heißen Kakao und fragt sie, wie es denn vorangehe. Bald sprechen die beiden schon wieder miteinander. Marion muss zwar weiter kräftig lernen, aber sie ist erleichtert und dankbar, dass das Schlimmste vorbei ist. Sie ist sich sicher: Nur aus Liebe zu ihr ist Mama so streng und leidet selbst darunter, ihr wehtun zu müssen.
Da das Wetter in den nächsten Tagen sehr schön ist, erlaubt die Mutter plötzlich, dass ihre Tochter nachmittags ein Stündchen zum Spielen rausgehen darf. Marion liebt ihre Mama dafür heiß und innig. Nie wieder will sie ihr den Kummer antun, eine schlechte Mathearbeit zu schreiben.
Die Manipulation der Mutti an der Gefühlswelt ihrer Tochter trägt Früchte. Anstatt zu Recht auf ihre Mutter wütend zu sein, hat Marion ihre Wut gegen sich selbst, die Mathematik
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