Mutti packt aus
Streitlust genährten Entschlossenheit – »Geben Sie mir bitte Ihren vollständigen Namen und den Ihres Vorgesetzten!« – ein. Gut gebrüllt, Löwin – sie darf gehen .
Ich hole erst einmal tief Luft. Denn das war erst das Vorspiel. Der Ernst des Lebens folgt in fünf Minuten, wenn sie hoffentlich vor mir steht. Na, die kann sich was anhören! Diebstahl! Das ist ja wohl das Mindeste, was ich von meinen Kindern erwarten kann: dass sie sich gefälligst nicht an fremdem Eigentum vergreifen. Was um Himmels willen habe ich denn falsch gemacht, dass diese Göre plötzlich klauen geht! Vorgestern die glatte Sechs in Mathe, die allein darauf zurückzuführen war, dass sie mich in Sachen Hausaufgaben belogen hatte, gestern das mit dem Trinkjoghurt in meiner Handtasche – und heute das! Für einen kurzen Moment wünsche ich mir, ich hätte mich nicht vor Jahren prinzipiell gegen saftige Ohrfeigen entschieden. Verdient hätte sie’s! Die Uhr tickt … gleich wird Billi klingeln.
Im Staccato der Sekunden schwappen die Jahre jäh zurück; ich sehe ein kleines, mir sehr ähnliches Mädchen, das in seinem Turnbeutel einen fünfzig Zentimeter hohen Schokoladenosterhasen nach Hause trägt, sich der Tatsache sehr bewusst, ihn nicht bezahlt zu haben. Zu Hause macht es sich sogleich über das arme Tier her, schafft aber nur die Ohren. Der Rest verschwindet, geschickt versteckt hinter zwei Milchtüten, im Kühlschrank. Abends – meine Mutter möchte Milchreis kochen – werde ich mit einer investigativen Frage-Antwort-Prozedur gemartert, die im höchstmütterlichen Urteil gipfelt, das Diebesgut morgen gemeinsam dem rechtmäßigen Eigentümer zurückzubringen. Die Schande, als ich mir heulend und bis aufs Mark beschämt die Mahnungen des Ladengeschäftsführers anhörte (der den Sechssiebentel-Osterhasen übrigens dankend, keine Bezahlung einfordernd und auch huldvoll auf die Einschaltung der Polizei verzichtend, zurücknahm), hat mich zu einem Menschen werden lassen, der sich wie ein Zechpreller vorkommt, wenn der Regen sich anschickt, kostenlos meine Balkonblumen zu gießen.
Da steht sie vor mir, die jugendliche Delinquentin, verheult, aus ihrer verrotzten Nase kommen große Blasen, die Schultern hängen, sie ist so klein, dass sie glatt beim Erdbeerenpflücken von der Leiter fallen würde. »Mama, die Jungs aus der B-Klasse«, schnieft sie zum Erbarmen weinend in meine Richtung, »haben gesagt«, schnief, »dass es cool ist«, schnief, »wenn man was klaut, und da hab ich«, schnief, »dieses Lipgloss …«. Schnief, schnief. Was sich vor ein paar Minuten noch am liebsten rot auf ihrer Wange abzeichnen wollte, fängt jetzt ganz warm zu kribbeln an, streichelt einen Kopf und nimmt einen zitternden Mädchenkörper in den Arm. Das Heulen kulminiert in einer lauten, heftigen Schmerzattacke, um dann langsam abzuebben. »Hey«, flüstere ich ihr ins heiße Ohr, »einmal hat jeder frei. Weißt du, ich habe auch mal geklaut.« Aus verquollenen Augen sieht sie mich an, »Echt?«, um sich die Kurzversion meiner Osterhasengeschichte anzuhören.
Nein, dieses Häufchen Elend kann ich jetzt nicht allein zu Hause lassen. Jemand muss bei ihr sein, der versteht, dass Kinder halt ab und zu in die miesen Fallen tappen, die ihnen von einer überwältigenden Phalanx aus Gruppen- und Konsumdruck gestellt werden – und die auch bei Präsenz rechtschaffener und liebender Eltern zuschnappen. Billi kommt hoch. Während ich mit der Taxizentrale bespreche, dass ich sofort einen Fahrer brauche, der Rechtswidrigkeiten im Berliner Stadtverkehr sowie bestechend deutlichen, pekuniären Extrazuwendungen nicht abgeneigt ist, höre ich mit einem Ohr, wie Billi, die es immerhin zur Vorsitzenden Richterin gebracht hat, meinem kleinen Mädchen locker abwinkend zuruft: »Klar hab ich auch mal geklaut, eine Sonnenbrille, da war ich schon zwanzig … Einmal ist keinmal, oder? Los komm, wasch dir das Gesicht, wir gehen Eis essen!«
Kurz vor’m Abflug denke ich, wie glücklich ich mich doch schätzen kann, dass bis jetzt nur eines meiner Kinder, und das auch nur ein einziges Mal, nämlich heute, mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist. Da fällt mir ein: Jetzt habe ich ganz vergessen, meinen Großen anzurufen, damit er mir eine Druckerpatrone aus dem Media Markt mitbringt. Na, auch egal. Beruhigt schlage ich die Beine übereinander und die Zeitung auf, als mein Handy klingelt: »Schöngunntag Media Markt Berlinschalottenbog hier, Schulße mein Name. Spreche ich mit
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