Myrddin
waren finanziell bis auf ihre Reserven ausgezehrt, hatten jedoch noch genug zu essen und hofften auf einen regen Publikumszulauf in Blackburn und Bolton.
Ganapathy hatte sich die Vorstellung am Sonntagabend reserviert, in der er auftreten wollte, und er kannte alle seine Aufführungen bis ins Detail. Die Nacht hindurch, während der Fahrt, hatte er gelesen, war dann einige Stunden eingeschlafen und fühlte sich mit der frischen Luft wie auferstanden.
„William, mein ganzes Leben habe ich an meinen Nummern gearbeitet, die so betörend sein sollten, daß das Publikum in ihnen aufgegangen wäre. Und ich habe es nicht geschafft. Bei allem, was ich tue, habe ich das Gefühl, die Großen zu kopieren“, meinte er, indem er aus dem Fenster sah. „Eigentlich bist du alt genug, um mich zu verstehen.“
„Wen meinst du mit den Großen , Ganymed?“ fragte Myrddin, der Große kannte und vielleicht einer der ganz Großen war, obwohl er sich selbst niemals in die Relation zu Menschen setzen wollte, sondern den Menschen an sich betrachtete.
„Ich denke an Charlie Rivel und an den größten aller Clowns: an Popov. Sie waren unverwechselbar und werden es bleiben. Und ich … Ich fabriziere nur Plagiate“, meinte der Clown. „Mir stand immer die Physik im Weg. Meine Gedanken sind nicht zu realisieren, und so habe ich mein Leben in meinen Anlagen verspielt und das Leben eigentlich von mir getrennt. Geht es dir manchmal auch so wie mir, als wäre das Leben nur der Traum des Lebens, aus dem du jeden Morgen erwachst?“ fragte Ganapathy.
„Warum fragst du mich das? Warum fragst du nicht Alex oder Jacky?“ wollte Myrddin wissen, der mit seiner Frage Ganapathy aus seinen Gedanken gerissen hatte.
„Das ist eine kluge Frage, William. Aber weshalb sollte ich nicht gerade dich danach befragen?“
„Auch das ist eine Antwort wert“, konterte Myrddin in rhetorischer Erfahrung.
„Und? Gibst du sie mir?“ fragte der Clown neugierig, der sich lange besinnen mußte, wenn er herausfinden wollte, wann er einen solchen Gesprächspartner zuletzt gehabt hatte.
„Falls du es so siehst, Ganymed, und die Tatsache für dich schmerzlich ist, so ist es selbst in deinem Alter an der Zeit, etwas ganz anderes zu tun, findest du nicht?“
„Damit beantwortest du mir die Frage nicht“, erwiderte der Clown hartnäckig.
„Es wird so sein, daß sich die Menschen in ihrem Leben mit den kleinen Dingen beschäftigen und sich in vielen selbstgeschaffenen Verbindlichkeiten die Zeit vertun, weil sie zu den großen Dingen nicht in der Lage sind“, meinte Myrddin. „Das sehe ich, wie du es siehst.“
„Aber all deine Klugheit hat dich nicht weiter gebracht, als mit einem Hirsch und zwei Wölfen zu uns zu kommen und uns um ein Lager und Beschäftigung zu bitten. Und du sprichst, als wärest du in deinem Leben klüger gewesen, William“, meinte Ganapathy, der sich durch Myrddin kritisiert fühlte.
„Möchtest du eine Stellungnahme haben?“ erkundigte sich Myrddin bei Ganapathy freundlich.
„Nein, William … eigentlich denke ich nur laut über mich selbst nach“, erklärte der Clown nachdenklich. „Wir hätten uns dasselbe mit vertauschten Rollen sagen können.“
„Das glaube ich nicht!“ sagte Myrddin überraschend und wollte ausführen, daß er keine Grenzen der Physik kenne, was ihn aber verraten hätte. Also überlegte er, wie er sich aus der mißlichen Lage, in die ihn seine Andeutung gebracht hatte, befreien konnte und sagte dann: „Ich bin nicht Ganymed, der berühmte Clown“, und lächelte, weil er sich gerettet fühlte.
„Ja, ja … Der einzigartige Ganymed, der sein Leben mit den Taschenspielertricks vertrieben hat und einem Publikum hinterherlief, das er niemals gesehen hat. Weißt du, das macht den Unterschied zwischen den Großen und den Pimpfen aus. Popov war da! Er besaß das Gefühl für die Gleichzeitigkeit. Er stand … und er war da … und sein Publikum sah ihn und fühlte ihn. Es fühlte ihn zu einem Teil der eigenen Zeit werden. Und die Pimpfe – sie sind auch da. Nur kommen sie zu spät. Sie rufen: Halt! Wartet! Ich komme sofort! Sekunde noch, dann bin ich bei euch! … und wenn sie endlich soweit sind, wunderschöne Masken haben, stehen sie in der Manege … doch das D-Zug-Publikum ist schon abgefahren. Dann stehen sie, und ihre Tränen rollen über die weiße Schminke, wenn die Scheinwerfer ausgehen, und sie bleiben allein in den Sägespänen stehen, wenn es dunkel wird. Die Fahrpläne habe ich studiert,
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