Myrddin
seiner Arzttasche, die er auf den Tisch gestellt hatte. Er öffnete sie, holte eine Tablettendose, eine Salbentube und mehrere Verbände heraus – und daß der alte Palluck etwas geerbt haben sollte, wovon er auf der Insel schillernde Gerüchte gehört hatte, glaubte er nicht, wenn er sich in der Baracke umsah. „Ein normaler Mensch kann doch nicht glauben, daß hier irgendwo Geld sein soll, wenn man diese Armseligkeit hier sieht, gute Frau. Und glauben Sie mir: wenn ich etwas besitze, so ist das eine ausgeprägte Menschenkenntnis. Man würde doch nicht hier leben … in dieser … dieser … na, wie soll ich es sagen …? Das Sie das mitmachen …“
„Ja, Mister Chadwick. Ich mag diese …, na, wie soll ich es nur sagen …?“ spöttelte sie.
Der Arzt zog die Augenbrauen hoch und fragte abermals, wer ihn für seine Mühen entlohnen würde.
„Ich werde Sie bezahlen.“
„Das wird teuer für Sie werden. Das wissen Sie? Das Antibiotikum allein kostet schon zwölf Pfund. Dann muß ich seine Beine verbinden und ihm die Salbe auf die Beulen schmieren … Und ich selbst muß auch noch leben“, und leise murmelte er vor sich hin: „… dabei ist noch gar nicht gesagt, ob seine Beine nicht amputiert werden müssen …“
„Und was wir mich Ihr Leben kosten …?“ fragte Tralee ruhig und ungerührt, als hätte sie seinen Zusatz nicht gehört.
„Na, sagen wir … alles in allem fünfundfünfzig Pfund, Miss …“
„Gut. Dann fangen Sie endlich an.“
„Ich werde erst anfangen, wenn Sie mir das Geld auf den Tisch legen. Man kennt doch die Zahlungsmoral …“, sagte Chadwick beharrlich.
„Was für eine Frechheit. Das ist ja unerhört. Ich würde es nicht glauben, wenn ich es nicht selbst erlebt hätte, Mister Chadwick. Was ist das für eine Zeit?“ erboste sich Tralee über unverschämten Äußerungen des Mediziners, ging zu ihrer Tasche, holte ihr Portemonnaie, indem sie insgesamt achtundvierzig Pfund hatte, gab dem Arzt das Geld und sagte ihm, daß sie den Rest am folgenden Tag in seiner Praxis vorbeibringen würde.
„Die Zeiten sind für uns alle schwer, Miss Tralee“, meinte Chadwick trocken, übte seine Kunst an Merlin aus, packte seine Sachen zusammen, nickte kurz mit dem Kopf zum Gruß und verordnete für den Alten jeden Tag zwei von den Tabletten, die er daließ. Seine Beinverbände müßten alle drei Tage gewechselt werden, so sich keine Verschlechterung des Zustandes einstellen sollte. Die Salbe würde er ihr gratis dalassen, da es sowieso nur ein Muster sei, sagte er und verabschiedete sich in den Abend.
Palluck brachte den Arzt durch die finstere Bucht zu seinem Auto, und Tralee zündete eine Petroleumlampe in der Hütte an, als draußen vor dem Fenster wieder die Elfen erschienen, in die Baracke schauten und sich immer noch keine Sorgen um Myrddin machten, der fest zu schlafen schien. Bevor Palluck zurückkam, flogen sie auf den Felsen, hinter dem sie Myrddins Eschenstab verborgen hatten, zogen sich die Graumäntel über die Köpfe und erzählten sich Geschichten, die sie in ihrer Phantasie zu schmieden verstanden.
Noch bevor Palluck in die Hütte trat, war Merlin aufgewacht. Er hatte seine Situation wohl gesehen, erkannt und überschaut, aber überhaupt noch nicht verstanden. Er war irgendwie unter die Menschen geraten, und er sah eine ältere hübsche Frau mit einem schmalen Gesicht und feiner Haut, geschwungenen Augenbrauen, kurzen, ergrauenden Haaren, mit einer Strickjacke über den Schultern. Er sah warmes, flackerndes Licht – wie in seiner Höhle in Nordnorwegen. Nur roch es ganz anders als in seiner Höhle. Es war hier auch viel wärmer, als es bei ihm je gewesen war – ein Ofen knisterte und Holzspäne sprangen manchmal als Funken auf dem Feuer. Merlin konnte die Frau nur im Profil erkennen, so daß sie ihn noch nicht gesehen haben konnte.
Der Seher fühlte sich schwach – sein Unterleib schien gelähmt, denn er versuchte seine Beine zu bewegen, was ihm mißlang. Er hatte Schmerzen in der Brust und ein taubes Gefühl in seinen Armen. Doch die Beine konnte er gar nicht fühlen. Den Menschen gegenüber wollte er aber keine Angst zeigen, obwohl er sie nicht kannte, denn Angst vor Menschen erzeugte in ihnen Mißtrauen. Angst würde ihn, Merlin, zum Opfer ihrer Art machen, dachte er.
Wo ist mein Stab …? Wo nur kann mein Stab sein …? Und mein Buch …, blitzte es plötzlich durch seinen tauben Schädel, der langsam wieder seine Arbeit aufnahm. Sein Verstand erwachte und
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