Mystic City 2. Tage des Verrats (German Edition)

Treffen ist es noch eine knappe Stunde. Wer weiß, wann die Bombe hochgeht. Wir müssen los.«
    Jarek fährt sich verlegen durchs Haar. »Soll ich zurück zum Haus? Ihr habt doch bestimmt die Nase voll von mir.«
    »Gut erkannt«, sagt Turk. »Du bist im Augenblick so ziemlich der letzte Mensch, über den ich mir Gedanken machen will.« Er zeigt auf den Rücksitz seines Motorrads und grinst schief. »Und genau deshalb werde ich dich nicht aus den Augen lassen. Aria, in den Beiwagen. Und setz den Helm auf.«
    Wir steigen aufs Motorrad. Turk startet. Wir lassen das alte Lagerhaus hinter uns, beschleunigen, gleiten in den trüben Himmel hinauf und entfernen uns vom Hudson. Unter uns glitzert das Wasser wie zersprungenes Glas.
    »Gott sei Dank«, seufze ich erleichtert, als mein Blick auf die Tasche fällt, in der sich Davidas Reliquiar befindet. Die Kühlbox habe ich mir fest zwischen die Beine geklemmt. Das ist zwar nicht bequem, aber das ist jetzt unwichtig. Wichtig ist nur, dass der Kampf – und Landons Tod – nicht umsonst waren. Wir haben das Reliquiar und das Herz. Jetzt müssen wir nur noch Hunter aufhalten, bevor es zu spät ist.
    Aus meiner verbrannten Hand sickert Wundflüssigkeit, und ein Stück Haut unter meinem Handgelenk ist völlig verkohlt. Dass ich keinen Schmerz mehr spüre, macht mir Sorgen.
    Mit der heilen Hand hole ich das Reliquiar aus der Tasche und streiche über die Verzierung. Die Sieben Schwestern. Wer sie wohl waren? Wie haben sie ihre Kräfte bekommen? Mussten sie auch solche Opfer bringen wie Davida oder Landon? Gedankenverloren fahre ich mit den Fingerspitzen über das glatte Holz, als ich plötzlich spüre, wie sich das Kästchen in meinen Händen bewegt.
    In Richtung Kühlbox. So als würden sich Box und Kästchen magnetisch anziehen. Dann berührt das Kästchen die Kühlbox und ich höre ein Klicken.
    Kann es sein, dass …
    Tatsächlich. Der Deckel des Kästchens hat sich in der Mitte geteilt und die beiden Hälften bewegen sich auseinander. Der Duft von Zedernholz und ein Hauch Zimt steigen mir in die Nase. Im Inneren ist der Name Davida Kane mit Blattgold eingearbeitet. Die Seiten sind mit einem dünnen schwarzen Rand verziert.
    Dann begreife ich: Das geschieht durch Davidas Herz.
    Irgendwie muss das Reliquiar die Nähe des Herzens gespürt und sich geöffnet haben, weil es das Herz in sich aufnehmen will.
    Ich sehe zu Turk, der uns zwischen hohen Wolkenkratzen hindurch zum Empire State Building steuert. Der graue Dunst vom Fluss vermischt sich mit dem Smog der Stadt und behindert die Sicht. Jarek hat die Augen geschlossen. Der Fahrtwind peitscht ihm das Haar ins Gesicht.
    Auf mich achtet niemand.
    Ich ducke mich tiefer in den Beiwagen und schiebe die Deckelhälften weiter auseinander. Ich entdecke noch mehr mystische Symbole – und ein gefaltetes Briefchen.
    Mit meinem Namen darauf.
    Ich sehe noch einmal zu Turk und Jarek, dann öffne ich das Briefchen.
    Aria,
    überlass mein Herz nicht einem Kästchen. Inzwischen solltest du wissen, was du zu tun hast.
    D.
    Noch bevor ich den Buchstaben am Ende sehe, erkenne ich ihre Handschrift. Ich lese den Brief ein zweites Mal. Inzwischen solltest du wissen, was du zu tun hast.
    Ich habe keine Ahnung, was ich mit einem Mystikerherzen tun kann außer die Zeremonie durchzuführen, die Lyrica mir beschrieben hat. Aber genau das möchte Davida nicht. Was also soll ich mit ihrem Herzen tun?
    Das einzige Herz, das ich je gesehen habe, ist …
    Eine Million Bilder ziehen durch meinen Kopf und fügen sich zusammen wie Puzzleteile: Frieda, die alte Frau auf der Farm, die gefragt hat, was mit Davidas Herz geschehen ist. Lyricas rätselhafter Hinweis darauf, dass nur ich allein diese Bürde tragen könne. Und natürlich mein herzförmiges Speichermedaillon. Darin hat Patrick Benedict meine Erinnerungen an Hunter aufbewahrt, nachdem meine Eltern sie aus meinem Gehirn extrahiert hatten.
    Das Medaillon konnte man nur öffnen, indem man es schluckte. Danach bekam ich meine Erinnerungen zurück.
    Ich betrachte das Kästchen und den Brief und lasse den Blick zu der Kühlbox zwischen meinen Beinen wandern. Darin liegt Davidas Herz. Sie muss den Brief geschrieben haben, bevor sie sich davongeschlichen hat, um Hunter und mir zu folgen. Sie wusste, dass sie möglicherweise nicht überleben würde, und deshalb hat sie mir diese Nachricht hinterlassen.
    Wenn es nach Davida geht, soll ich das Herz nicht ihrer Familie übergeben.
    Sondern es in mir