Mystic City 2. Tage des Verrats (German Edition)
aufnehmen.
Ich erinnere mich daran, wie ich das Speichermedaillon geschluckt habe. Nicht noch einmal.
Ob das gefährlich ist? Könnte ich daran sterben? Was werden Hunter und die anderen von mir denken? Mir fallen tausend Gründe ein, warum ich Davidas Wunsch nicht erfüllen kann.
Aber es war doch ihr Wille.
Ich öffne die Kühlbox, silbernes Licht leuchtet auf.
Das Herz befindet sich in einem doppelwandigen Glasbehälter, der mit Quecksilber gefüllt ist. Als ich den Behälter hochhebe und drehe, gerät die silberne Flüssigkeit zwischen den Glaswänden in Wallung – wie Blut, nur tödlich.
Ich öffne vorsichtig den Deckel, und da ist es: das Herz.
Es ist kleiner, als ich erwartet hatte, nicht größer als eine dicke Erdbeere, ein winziges Stück Fleisch. Und es ist blau – kobaltblau an der Oberseite und unten heller, durchzogen mit weißem Fett und indigofarbenen Arterien.
Davidas Lebenskraft – die Essenz ihres Wesens.
Eine Erinnerung steigt in mir auf: Wir sitzen zusammen auf meinem Bett. »Liebst du ihn?«, fragt sie und meint Hunter. Ich sage ihr, dass ich ihn liebe. »Wenn es Liebe ist, beschütze ich euch beide. Solange ich kann.« In ihren Augen liegt eine tiefe Traurigkeit. Fast scheint es, als wollte sie noch etwas hinzufügen, doch sie streicht nur die schwarzen Locken hinter die Ohren und wendet den Blick zur Seite.
Davida hat immer auf mich aufgepasst, sogar noch nach ihrem Tod. Ich betrachte das Herz und fange an zu weinen.
»Aria?«, ruft Turk über die Schulter. Ich drehe mich weg und unterdrücke die Tränen.
»Was ist los?«
Schaudernd betrachte ich das Stück Fleisch in meiner Hand. Ich kann nicht hineinbeißen. Bei dem Gedanken, es zu kauen …
Ich unterdrücke die Übelkeit, die in mir aufsteigt.
Jetzt, denke ich. Schluck es.
Ich schließe die Augen und öffne den Mund. Tränen rinnen mir über die Wangen. Dann lege ich mir das Herz auf die Zunge und lasse es kurz dort liegen.
Es hat gar kein Gewicht. Ich spüre nichts.
Plötzlich explodieren meine Geschmacksknospen und ich schmecke Süße, als hätte man mir den Mund mit Sirup gefüllt. Merkwürdig, denke ich und schlucke Davidas Herz hinunter.
25
Ich fühle alles und nichts. Die Farben meiner Umgebung wirken heller. Klarer.
Überhaupt scheint mein Blick geschärft zu sein. Mein Spiegelbild auf der Glasfassade des Wolkenkratzers kann ich ganz deutlich erkennen. Wir steigen immer höher in den Himmel hinauf. Bald sind wir am Ziel und die Friedensverhandlungen können beginnen.
Die warme Luft schmeckt salzig, fast faulig. Smog legt sich auf meine Zunge. Ich schmecke die Luft tatsächlich, eine Mischung aus Schmutz und Staub und Öl. Je näher wir dem Empire State Building kommen, umso nervöser werde ich.
Jede Pore meines Körpers scheint sich ausgedehnt zu haben und kribbelt. Ich fühle mich lebendig, aufgedreht, euphorisch. Hellwach. Meine verbrannte Hand verheilt, und sie heilt verblüffend schnell. Ich kann dabei zusehen, wie sich die Haut erneuert und meine schwarzen Finger wieder rosa werden, genau wie der Rest der Hand. Ich öffne und schließe sie vorsichtig. Der Schmerz ist weg.
Ich kann sogar hören, wie mein Herz schlägt und Blut und Sauerstoff und Nährstoffe durch meinen Körper pumpt.
Ich öffne den Mund, aber meine Lippen sind klebrig.
Turk wirft mir einen besorgten Blick zu. »Was ist los, Aria? Du siehst irgendwie krank aus.«
Krank? Ich fühle mich grandios .
Turk legt sich in die Kurve und wir schießen über die Dächer der Tiefe hinweg. Die Sonne scheint hell, heiß und gelb, als wäre die Welt in Ordnung und als stünde ihr keine Tragödie bevor.
Für diese Tageszeit sind wenig Menschen auf der Straße unterwegs, und das ist gut. Sie haben mein Video gesehen und die Gegend verlassen. Zumindest hoffe ich das.
»Wir sind gleich da«, sagt Turk.
Plötzlich schmecke ich süß und bitter und sauer gleichzeitig. Was ist denn nur mit meiner Zunge los?
Wie viel Zeit haben wir noch? Wie viel? Wie viel?
Die Gedanken schießen durch meinen Kopf wie Gummibälle. Meine Nase kitzelt. Ich niese und blutiger Schleim spritzt heraus.
»Gesundheit«, sagt Turk. Ich wische mir das Blut mit dem Ärmel ab.
Als ich Turk ansehe, verschwimmt mein Blick, und es sieht aus, als hätte Turk vier – nein sechs! – Augen, und alle sehen mich sorgenvoll an. Jetzt zwinkern sie auch noch gleichzeitig! »Aria?«, hallt Turks Stimme in meinem Kopf wider. »Aria?«
Ich drehe mich weg und sehe ihn wieder an –
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