Mystic City 2. Tage des Verrats (German Edition)
nächsten Moment rauscht warmes Wasser an mir herab. Ich halte erst mein Gesicht und dann den Rücken in den Strahl. Das Nass wäscht das Blut von meiner geschundenen Haut und vertreibt den Schmerz aus meinen Knochen.
Ich versuche zu rekonstruieren, was eigentlich genau geschehen ist. Hunter hat gesagt, wir wären auf der Farm sicher, niemand könne uns finden. Da lag er eindeutig falsch. Wer ist hinter mir her – meine Eltern? Kyle? Ich balle die Hände zu Fäusten und schlage gegen die Wand. Aber davon wird es auch nicht besser. Der kleine Markus ist tot – meinetwegen. Wäre ich nicht auf der Farm gewesen, hätte es wahrscheinlich nie einen Überfall gegeben – und niemand wäre gestorben.
Ich lehne mich an die Duschtür. Es ist alles meine Schuld. Ich fühle mich nutzlos, bin voller Angst und voller Gewissensbisse. Dann schließe ich die Augen und wünsche mir, alles wäre wieder normal. Aber was ist schon noch »normal«?
Die beiden Frauen kommen wieder herein und nehmen mir die Handschellen ab, sodass ich mich abtrocknen kann.
In meiner Nacktheit fühle ich mich unbehaglich; ich mochte es auch nicht, wenn Davida mich nach dem Duschen ohne Kleidung sah, und sie war immerhin meine Dienerin. Meine Freundin. Diese Frauen sind Fremde – und mehr als das: Soldaten der Fosters. Feinde.
Ich nehme das rote Kleid vom Bett. Es ist beileibe nicht so schlicht, wie ich zuerst dachte – im Gegenteil: ein echter Hingucker. Nach einem solchen Rot drehen sich die Leute um. Es sagt: Gucken ist erlaubt, anfassen verboten. Das Kleid ist aus reiner Seide, braucht aber nicht viel Stoff, denn es ist ärmellos und rückenfrei und hat einen Nackenträger. Einen BH finde ich nicht. Der Rocksaum ist mit feinen schwarzen Perlen besetzt und klickert um die Knie, als ich mich umdrehe und im Spiegel betrachte.
Es ist ein Abendkleid für eine Party. In der Zeit vor dem Krieg hätte ich es bei einem Dinner meiner Eltern oder bei einem Date mit Thomas getragen. Auf jeden Fall ist das ein Kleid für ein Mädchen aus den Horsten. Ein Schauder läuft mir über den Rücken bei dem Gedanken, dass ich als Gefangene so etwas trage. »Los«, sagt Tasha. »Gehen wir.«
Meine beiden neuen »Freundinnen« scheuchen mich in den großen Raum zurück. Das nasse Haar klebt mir am Rücken. Ich zittere vor Kälte.
Auf dem Tisch brennen die Kerzen und mir gegenüber, am anderen Ende, sitzt ein Mann mit gesenktem Kopf. Er trägt einen weißen Leinenanzug, ein weißes Hemd und eine blaue Krawatte. Das braune Haar ist ihm in die Stirn gefallen und verhüllt sein Gesicht.
Tasha zieht den Stuhl für mich zurück und ich nehme Platz. »Wenn du zu fliehen versuchst, erschieße ich dich«, sagt sie. Ich zweifle keinen Augenblick daran, dass sie es ernst meint.
Ich lehne mich zurück und betrachte den Mann vor mir. Er hebt den Kopf und mir stockt der Atem. Thomas Foster.
Das Kerzenlicht wirft flackernde Schatten auf sein Gesicht und lässt seine braunen Augen gespenstisch glitzern.
Mir wird flau im Magen. Er ist doch tot!
Auf seinem Teller liegt ein Stück Fleisch, das so kurz angebraten ist, dass es beinahe roh aussieht. Thomas schneidet ein Stück von dem Steak ab. Blut läuft heraus, ich kann es riechen. Er nimmt einen Bissen, kaut genüsslich und schluckt ihn hinunter. Dann legt er den Kopf schief und zwinkert mir zu. »Hallo, Aria.«
Ich bringe keinen zusammenhängenden Satz heraus. »Aber du … Ich habe gesehen, wie … Du bist …«
»Tot?« Sein Blick wird sadistisch. »Nein. Obwohl du auf mich geschossen hast.« Er tippt sich auf die Brust, knapp unter dem Herzen. »Glücklicherweise bist du keine gute Schützin.«
Der Kampf in der U-Bahn läuft noch einmal vor meinem inneren Auge ab. Wenn ich nicht auf Thomas geschossen hätte, hätte er Hunter umgebracht. Die ganze Zeit habe ich ihn für tot gehalten. Wie viele Nächte konnte ich seitdem nicht schlafen, weil ich glaubte, ihn getötet zu haben? Und jetzt sitzt er vor mir. Quicklebendig.
»Ich weiß.« Thomas nippt an seinem Rotweinglas. Er ist nur ein Jahr älter als ich, aber er hält das Glas, als wäre er seit Jahren an Alkohol gewöhnt. »Tja, mein Anblick macht dich sprachlos. So geht es den meisten Frauen bei mir.« Er zögert. »Das hättest du dir wohl nicht träumen lassen.«
»Ach, hör auf, Thomas«, sage ich. »Du hast dich doch niemals wirklich für mich interessiert. Du hast mich mit Thea Monasty betrogen, und als ich mein Gedächtnis verloren hatte, hast du mir
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